Erleichtert im Debattierklub

Die offensivstarken Franzosen kamen erst spät zu den beiden Siegtreffern gegen tapfer kämpfende Albaner

  • Maik Rosner
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach dem spät erzwungenen 2:0 gegen Albanien und dem Achtelfinal-Einzug muss Frankreichs Trainer Deschamps Personaldiskussionen wegen des Verzichts auf Pogba und Griezmann führen – vor scharfer Kritik bewahrt wird er aber vor allem von Payet, dem neuen Gesicht der Équipe Tricolore

Marseille. Didier Deschamps wusste natürlich, dass die Frage nach dem anfänglichen Verzicht auf Paul Pogba und Antoine Griezmann kommen würde. Dennoch konnte der Trainer des EM-Gastgebers Frankreich eine gewisse Gereiztheit nicht verbergen, so sehr er sich auch um Contenance mühte. Äußerlich wahrte er diese zwar, inhaltlich aber nicht immer.

Er habe »allein aus taktischen Gründen« einen Bankplatz verfügt, sagte Deschamps also angesprochen auf Pogba, »ich wollte mehr Geschwindigkeit und Schlagzahl auf den Seiten haben. Paul hat andere Qualitäten.« Deshalb habe er zunächst die Flügelspieler Anthony Martial von Manchester United und Kingsley Coman vom FC Bayern aufgeboten. Natürlich, sagte der Trainer weiter, wisse er, dass weder Griezmann noch Pogba erfreut über diese Entscheidung gewesen seien. »Aber ich wechsele, wenn mir etwas nicht passt. Ich habe Lösungen auf der Bank, um dem Team einen Schub zu geben.« Und dass der Turnierfavorit Frankreich gegen den krassen Außenseiter Albanien erst durch zwei sehr späte Tore 2:0 (0:0) gewonnen hatte? »Wir haben sechs Punkte, sind im Achtelfinale, wenngleich nicht alles gut war. Wenn Sie ein Team sehen, dass alles richtig macht, sagen Sie es mir«, entgegnete Deschamps barsch und deutete die späten Treffer des eingewechselten Griezmann (90.) und von Dimitri Payet (90.+6) lieber als »gutes Zeichen« für die Nervenstärke seines Teams. Torwart Hugo Lloris schloss sich an. »Wir haben Reife gezeigt, weil wir bis zum Ende geduldig geblieben sind. Diese Geduld ist mit schönen Toren belohnt worden«, sagte er. Kollege Adil Rami fürchtet allerdings: »Ich glaube, ich verliere bei dem Stress vor dem Ende der EM alle Haare.«

Inwieweit dazu des Trainers Personalentscheidungen beitragen, ist nun Teil der Debatten nach dem erneut nicht wirklich überzeugenden Auftritt, wenngleich diese nicht in jener Schärfe geführt werden, die ein 0:0 nach sich gezogen hätte. Die beiden Starspieler Pogba und Griezmann zunächst draußen zu lassen, konnte zwar nicht völlig überraschen nach deren Auswechselung beim ebenfalls erst in den Schlussminuten gewonnenen Auftakt gegen Rumänien (2:1) und den Diskussionen danach, in denen der Trainer einen Verzicht schon in Aussicht gestellt hatte. Dass er diesen tatsächlich wahrmachte, trug jedoch Züge einer Majestätsbeleidigung, jedenfalls im Fall Pogba. Bei Griezmann ging es nach der langen und schlauchenden Saison mit Atlético Madrid eher um Schonung. Bei Juventus Turins Pogba aber handelte es sich offenbar um eine Disziplinarmaßnahme. Das jedenfalls berichtete L›Équipe. Demnach sei Pogba verspätet zum Frühstück gekommen und in Badeschlappen, womit er gegen die Kleiderordnung verstoßen habe.

Diese Störgeräusche nutzt Payet, um jene Rolle zu übernehmen, die eigentlich für Pogba, 23, vorgesehen war. Statt des vorab zum EM-Gesicht auserkorenen Jungstars ist es nun Payet, 29, auf der Insel Réunion östlich von Madagaskar geboren und Mittelfeldspieler bei West Ham United, der die französischen Auftritte prägt. Vor allem durch sein Faible für späte Tore. Nicht nur in den beiden EM-Spielen gegen Rumänien und Albanien hatte er dies unter Beweis gestellt, sondern auch im Test gegen Kamerun zuvor, als ihm der Treffer zum 3:2 in der 90. Minute gelang. Zufall kann das mittlerweile nicht mehr sein. Schon vor einem Jahr bei seinem ersten Länderspieltor in der Nachspielzeit gegen Belgien erwies sich Payet als Spezialist für die letzten Minuten oder gar Sekunden. Eine Qualität, die er im gesamten Team erkennt. Beim 3:2-Testspielsieg gegen die Niederlande im März habe man bereits gezeigt, »dass wir Spiele spät gewinnen können«, erinnerte Payet. Damals war Blaise Matuidi in der 88. Minute das dritte Tor gelungen.

Nun schien Payet nach seinem zweiten Turniertor, dem spätesten in der EM-Geschichte, ganz berauscht. Ein Kompliment nach dem anderen verteilte er, und wäre er nur gefragt worden, er hätte sicher auch lobende Worte für den Stadionarchitekten, Hafenvorsteher und die Metrofahrer gefunden. Dass er sich in seinen Hymnen zudem ausgiebig selbst bedachte, sprach für sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. »Wieder einmal habe ich den Unterschied gemacht«, ließ Payet wissen. Zu seiner Ehrenrettung sei erwähnt, wie huldvoll seine Elogen auch auf andere gerieten. »Er hat das Spiel für uns gewonnen. Griezmann hat gezeigt, wozu er fähig ist«, befand Payet über den Mitte der zweiten Halbzeit für Coman eingewechselten Kollegen. Und auch Pogba, erst nach der Pause auf dem Platz, bedachte Payet, zumindest indirekt: »Die Einwechselspieler haben den großen Unterschied gemacht.« Wer wollte, konnte das gar als latente Kritik an Deschamps Startelf deuten. Doch hätte man Payet nur danach gefragt, ihm wäre sicher auch ein Lob für den Trainer eingefallen. Der ist unterdessen erst einmal erleichtert im Debattierklub. Zumindest bis zum Sonntag, wenn gegen die Schweiz noch ein Punkt her muss für den angestrebten Gruppensieg.

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