Rassismus und Repräsentation: Die Nationalelf war immer politisch

An der Fußballnationalmannschaft entzünden sich die großen Debatten. Ein Vorabdruck aus dem Buch von Dietrich Schulze-Marmeling und Bernd-M. Beyer

  • Dietrich Schulze-Marmeling und Bernd-M. Beyer
  • Lesedauer: 8 Min.
Die DFB-Elf vor dem WM-Finale 1954 in Bern
Die DFB-Elf vor dem WM-Finale 1954 in Bern

Seit im Mai 2018 İlkay Gündoğan und Mesut Özil auf einem Foto gemeinsam mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan posierten, sind die politischen Debatten um die Fußball-Nationalmannschaft hitziger geworden. Özils zorniger Rücktritt, der unselige Auftritt der Mannschaft bei der WM in Katar, die Nominierung Gündoğans zum Kapitän und ein über die sozialen Medien gestreutes Gebet des Moslems Antonio Rüdiger – das alles sorgte für gewaltige Aufreger in den Medien und vor allem im Netz. Schließlich wurde sogar die Trikotfarbe zum Politikum: Durften deutsche Fußballjungs wirklich in solch einem tuntigen Pink-Lila die Nation vertreten?

Dass die Nationalmannschaft politische Zuschreibungen und Diskussionen erfährt, dass bei ihren Auftritten also »Politik im Spiel« ist und es nicht nur um Sport geht, ist jedoch keineswegs ein neues Phänomen, sondern begleitet die Auswahl von Beginn an.

Die Deutschnationalen wollten anfangs keine Fußballer als Repräsentanten

Der öffentliche Fokus, der auf das Männer-Nationalteam gerichtet ist, hängt eng mit dessen Rolle als Repräsentanten Deutschlands zusammen. Dies galt schon in den Kindertagen des Spiels, als Fußball im Deutschen Reich noch eine Randsportart war. Seinerzeit und hierzulande war es ein völlig neuer Gedanke, dass eine repräsentative Mannschaft Fußball-Deutschland in Länderspielen vertreten und sich dabei mit anderen Nationen messen sollte. Und dieser Gedanke war durchaus umstritten; insbesondere das deutsch-nationale Lager hielt nichts davon. In die Schlagzeilen gelangte dieser Diskurs allerdings nicht, dafür war das Spiel noch zu nebensächlich.

Als Fußball nach dem Ersten Weltkrieg zum Massen- und Zuschauersport avancierte, erhielt der Aspekt einer Repräsentanz eine wachsende Bedeutung. Siege oder Niederlagen in wichtigen Länderspielen waren fortan auch politisch konnotiert. Der viel zitierte WM-Gewinn von 1954 war dafür beileibe kein Einzelfall. In der Bundesrepublik gab und gibt es keine andere Instanz oder Persönlichkeit, die über politische Strömungen, soziale Schichten und kulturelle Schranken hinweg eine solch breite Zuschreibung als Repräsentant des Landes erfährt wie die Fußball-Nationalmannschaft. Für nicht wenige Deutsche ist sie auf internationaler Bühne der wichtigste Vertreter.

Die WM 1954 als »Repräsentanz besten Deutschtums«?

Das ist nicht ganz unbegründet. Dank der weltweiten Bedeutung des Fußballs prägt die nationale Auswahl das Bild, das Deutschland international abgibt, in gewissem Umfang mit. Im Guten wie im Schlechten. Der atmosphärisch gelungene Auftritt von Fritz Walter und Co. in Moskau 1955, während der Hochphase des Kalten Krieges also, relativierte im Nachhinein ein wenig die Selbstgefälligkeit des DFB-Präsidenten Peco Bauwens, der den WM-Gewinn ein Jahr zuvor in völkischer Tradition als »Repräsentanz besten Deutschtums« überhöht hatte.

Die Fairness, mit der Uwe Seelers Mannen im Finale 1966 das ungerechte »Wembley-Tor« akzeptierten, wurde gerade im Land des vormaligen Weltkriegsgegners als »sportsman-like« anerkannt. Die kreative Leichtigkeit der EM-Sieger von 1972 unterstrich, parallel zur sozial-liberalen Regierungspolitik, die unter dem Motto »Mehr Demokratie wagen« stand und eine neue Ostpolitik betrieb, eine neue Wahrnehmung der Deutschen im Ausland – so wie die arroganten Auftritte von Schumacher, Breitner und Co. bei der WM zehn Jahre später dieses Bild wieder arg beschädigten. Und die empathische Zurückhaltung, die Jogi Löws Team beim 7:1-Triumph über die brasilianischen Gastgeber im WM-Halbfinale 2014 zeigte, nahm diesem Kantersieg zumindest politisch den Stachel einer Demütigung.

Als Gastgeber wollte man sich tolerant und weltoffen zeigen

Bei den Turnieren 2006 und 2024 im eigenen Land bemühte sich der DFB, die deutschen Gastgeber als tolerant und weltoffen zu präsentieren. Die meisten internationalen Beobachter nahmen es tatsächlich so wahr, auch wenn dieses Bild nicht ganz den Realitäten entsprach. Als internationale Visitenkarte Deutschlands hat die Nationalelf jedenfalls ihre Bedeutung.

Und wie ist die Wahrnehmung im eigenen Land? Dass die Sympathien für die Elf sportlichen Konjunkturen folgen, dass beispielsweise nach gelungenen WM-Auftritten die Identifikation der Fans mit ihrem Team höher ist als nach schlappen Niederlagen, ist selbstverständlich. Unabhängig davon existiert jedoch eine zweite Perspektive, die auf die DFB-Auswahl als Repräsentant der Nation gerichtet ist. Das Verhältnis zur Nationalelf wird stark dadurch geprägt, inwieweit sie auch jenseits sportlicher Leistungen dem jeweils erwünschten Bild von Deutschland entspricht.

Vom deutschen Vorzeigefußballer zum Erdoğans Liebling: Mesut Özil (l.) 2018
Vom deutschen Vorzeigefußballer zum Erdoğans Liebling: Mesut Özil (l.) 2018

Für die Nazis war die Angelegenheit ziemlich klar: Die Nationalmannschaft sollte die großdeutsche Volksgemeinschaft abbilden, in all ihrer arischen Reinheit und Gesinnung. Weshalb neben Juden auch nicht-jüdische Spieler ausgeschlossen blieben, die gegen das völkisch geprägte Amateurideal verstoßen hatten, wie die Stürmerstars »König Richard« Hofmann und »Ossi« Rohr.

Nachdem die Volksgemeinschaft gewaltsam um Österreich erweitert worden war, wurde Reichstrainer Sepp Herberger jenseits aller sportlicher Logik angewiesen, seine Nationalelf streng paritätisch aus »Altdeutschen« und »Ostmarkern« zu besetzen – um die völkische Einheit auch im Fußball zu präsentieren.

Profis im Ausland galten als raffgierige Vaterlandsverräter

Das Misstrauen gegen Profifußballer überdauerte die Nazi-Zeit, und Kicker, die notgedrungen im Ausland ihr Geld verdienten, galten in der Bundesrepublik vielfach als raffgierige Vaterlandsverräter. Noch bis weit in die 70er Jahre und in die Amtszeit von DFB-Boss Hermann Neuberger hinein war ihre Berufung für Länderspiele keine Selbstverständlichkeit.

Mit ähnlichen, aus heutiger Sicht kuriosen, in damaliger Zeit jedoch reaktionär geprägten Vorurteilen hatten Spieler zu kämpfen, die nicht dem braven, angepassten, strammdeutschen Ideal entsprachen. Lange Haare auf dem Schädel von Nationalspielern provozierten eine Lawine wütender Briefe an Bundestrainer Helmut Schön, vergleichbar mit heutigen Hass-Posts im Internet. Dass diese Jungs beim Abspielen der Nationalhymne stumm blieben oder gar Kaugummi kauten, kam erschwerend hinzu.

Mag es sich dabei (auch) um einen Generationenkonflikt gehandelt haben, so änderte sich dies, als mit Erwin Kostedde 1974 erstmals ein schwarzer Nationalspieler für Deutschland auflief, und 25 Jahre später mit Mustafa Doğan der erste Spieler mit türkischen Wurzeln. Vorbehalte und Hetze gegen sie und ihre Nachfolger griffen auf die völkische Blickweise des Nationalsozialismus zurück: Die Nationalelf hatte eine (fiktive) rassisch reine Volksgemeinschaft abzubilden, in der Nicht-Weiße und Menschen mit Migrationsgeschichte keinen Platz haben.

Mit dem Erstarken rechtsradikaler Stimmungen und Parteien wurden diese Stimmen lauter. Nicht alle mögen so weit gehen wie AfD-Politiker, die dem DFB-Team jegliche Legitimation absprechen, Deutschland zu repräsentieren, und die jede Niederlage als Bestätigung ihres Rassismus sehen. Doch der Konflikt um Rüdigers Gebetsvideo zeigte, welchen Vorurteilen sich jene Nationalspieler weiterhin ausgesetzt sehen, die nicht der »biodeutschen« Norm entsprechen.

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Nicht von ungefähr stehen gerade sie auch unter besonderer Beobachtung, wenn es um das Singen der Nationalhymne geht, das den Spielern 1984 im Zuge von Kohls »geistig-moralischer Wende« verordnet worden war: Singen sie tatsächlich mit? Oder tun sie nur so? Oder kennen sie gar den deutschen Text nicht?

»Es ist offenbar kein Zufall«, schrieb 2024 die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »dass gerade rund um den Fußball eine Homogenität des Volkes beschworen wird«. Doch jenseits völkischer Fantastereien gilt: Die deutsche Nationalmannschaft spiegelt in ihrer heutigen Zusammensetzung die gesellschaftliche Realität in Deutschland, in all ihrer Vielfalt und Diversität. Nichts anderes wäre mit sportlichen Grundsätzen vereinbar. Fairness und Toleranz gebieten es, niemanden aus rassistischen oder religiösen Gründen von der sportlichen Teilhabe auszuschließen. Eine Nationalelf, in der keine Spieler mit familiärer Migrationsgeschichte stünden, wäre heutzutage nicht wirklich eine deutsche.

Jahrzehntelang eher das Hobby von Rechten und Konservativen

Viele Dekaden war die Nationalmannschaft eher ein Hobby von Konservativen und Rechten gewesen. Große Teile der Linken standen ihr skeptisch bis ablehnend gegenüber. Dies hat sich geändert: Die Nationalmannschaft wurde zum Konfliktfeld in Sachen Rassismus versus Antirassismus. Die Nationalmannschaft bildete eine Gesellschaft ab, die die Rechte nicht mochte. Im Umgang mit Inklusion und Diversität war sie vielleicht weiter als ein großer Teil der Gesellschaft, was ihr auf Seiten der Liberalen und Linken Sympathiepunkte einbrachte.

Für die Rechte hat die Nationalelf in einer globalisierten Fußballwelt »traditionelle Werte« zu verteidigen. Dabei geht es nicht nur um Kommerzkritik, sondern auch um »Rasse«. Die Nationalelf hat weiß beziehungsweise eine letzte Bastion »echten Deutschtums« zu bleiben. Aber die Einwanderung hat auch diese Bastion geschliffen. Diese Realität mag mancher nicht akzeptieren und lässt seinem Hass freien Lauf.

In einer zusehends nach rechts driftenden Republik schützten auch Erfolge nicht vor rassistischen Angriffen. Im Juni 2023 wurde die U17 des DFB erstmals seit 2009 wieder Europameister. Anschließend wurden die Spieler Charles Herrmann, Almugera Kabar, Paris Brunner (alle Borussia Dortmund) und Fayssal Harchaoui (1. FC Köln) mit rassistischen Postings überschüttet. Die Strategie der Rechten war klar: Rassistische Kommentare sollten Unruhe ins Team bringen und schwarze Spieler verunsichern. Scheitert dann das »bunte« Team, gilt dies als Beweis dafür, dass »Multikulti« nicht funktioniert.

U17-Coach Christian Wück dazu: »Es ist leider ein Trend, der vor allem im Internet aus meiner Sicht nicht mehr aufzuhalten ist. Wir müssen uns da Gedanken um unser Land machen, um Deutschland und um die Gesellschaft.«

Gekürztes Kapitel aus: Dietrich Schulze-Marmeling/Bernd-M. Beyer: Politik im Spiel. Die andere Geschichte der deutschen Fußballnationalmannschaft. Edition Einwurf, 320 S., 26 €.

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