Aufbruch ins Absurde
100 Jahre Dadaismus, 100 Jahre moderne Atomtheorie: über den Einfluss der Kultur auf die Entwicklung der Physik. Von Martin Koch
Am 24. August 1920 veranstaltete die »Arbeitsgemeinschaft deutscher Naturforscher zur Erhaltung reiner Wissenschaft« in der Berliner Philharmonie einen Vortragsabend. Erster Redner war ein gewisser Paul Weyland, der dem ultrarechten Flügel der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) angehörte. In seinem Vortrag wandte er sich unmittelbar gegen Einsteins Relativitätstheorie. Da ihm aber jegliche physikalische Sachkenntnis fehlte, versuchte Weyland mit dreisten Unterstellungen, die Zuhörer auf seine Seite zu ziehen. Einstein, der in einer Loge der Philharmonie dem Ereignis beiwohnte, nahm alles »mit gelassener Ruhe, mitunter sogar leise lächelnd« zur Kenntnis. Und das, obwohl Weyland ihn des Plagiats bezichtigte und die Relativitätstheorie als »wissenschaftlichen Dadaismus« bezeichnete.
Offenkundig war es Weylands Absicht, Einsteins Theorie auf diese Weise zu diskreditieren. Im Grunde jedoch lag er mit seiner Behauptung nicht völlig daneben. Denn die 1916 in Zürich gegründete Kunstbewegung Dada erhob, ähnlich wie die Wissenschaft, den radikalen Zweifel zu ihrem Grundprinzip. Die Dadaisten rebellierten gegen die Konventionen ihrer Zeit und suchten nach neuen Formen der Darstellung des Bekannten. Hierin war Einstein ihnen durchaus geistesverwandt. Fast im Alleingang und unter Missachtung tradierter Denkmodelle führte er die Physik im frühen 20. Jahrhundert aus einer ihrer tiefsten Krisen. Er stürzte dabei nicht nur die für unantastbar gehaltene Newtonsche Mechanik vom Sockel, sondern entwickelte außerdem ein gänzlich neues Verständnis von Raum, Zeit, Materie und Bewegung.
Vielen seiner Zeitgenossen erschien all dies ebenso absurd wie die moderne Kunst. Auf die Frage, was die Relativitätstheorie eigentlich sei, gab die »Berliner Illustrirte Zeitung« am 19. Juni 1921 folgende Antwort: »Denk Dir, am Bahndamm steht ein Mann und oben fährt ein zehn Kilometer langer Zug. Nun schickst Du einen Lichtstrahl durch den Zug. Durch die Belichtung wird der Mann am Bahndamm jünger. Das ist die Relativitätstheorie.« Ein Autor des »Hannoverschen Anzeigers« äußerte sich 1920 in ähnlich schräger Weise: »Wenn ich meine Tante Bibi mit der Geschwindigkeit eines Lichtstrahls hinaus ins Weltall schleudere und hole sie an der Ekliptik plötzlich zurück, und die Erde hat sich 100 Jahre gedreht, wird die Tante noch immer sagen, sie sei 28 Jahre alt, obwohl sie unberufen schon 45 ist.«
In einem Punkt allerdings war Einstein nicht ganz so »frei« wie die Dadaisten. Während diese den Zufall zum schöpferischen Prinzip erklärten, hielt er beharrlich am klassischen Determinismus fest. »Gott würfelt nicht«, lautete Einsteins Credo, das vor allem gegen die sogenannte statistische Deutung der Quantenmechanik gerichtet war. Danach beruht der Zufall nicht nur auf subjektiver Unkenntnis, sondern ist in den Prozessen des Mikrokosmos selbst verankert und somit objektiv.
Ähnlich wie der Dadaismus und andere moderne Kunstströmungen geriet auch die relativistische Physik während der Weimarer Zeit ins Fadenkreuz der extremen Rechten. Bereits 1920 bezeichnete der »Völkische Beobachter« Einsteins Theorien als »jüdischen Wissenschaftsraub« und »rabulistischen Bluff«. Ein Jahr später stimmte Adolf Hitler in diesen Chor ein: »Wissenschaft, einst unseres Volkes größter Stolz, wird heute gelehrt durch Hebräer, denen im günstigsten Fall diese Wissenschaft nur Mittel ist zu ihrem eigenen Zweck, zum häufigsten aber Mittel zur bewussten planmäßigen Vergiftung unserer Volksseele und dadurch zur Herbeiführung des inneren Zusammenbruchs unseres Volkes.«
Auch der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler, der in seinem zweibändigen Werk »Der Untergang des Abendlandes« (1918/1922) die westeuropäische Kultur in ihrem letzten Entwicklungsstadium wähnte, entdeckte in der zeitgenössischen Physik deutliche Symptome des Zerfalls. Die Dekonstruktion der zentralen physikalischen Begriffe, so erklärte er, komme dem Zusammenbruch einer Religion gleich und werde notwendigerweise in die Geburt eines neuen Mythos münden. Spenglers Buch sei ein hervorragendes Zeugnis dafür, meint der Physiker und Wissenschaftsautor Carsten Könneker, »dass der modernen Physik an sich bereits eine Brisanz zukam, die sich mittelbar auch in der elementaren Sehnsucht der Menschen nach weltanschaulicher Erneuerung widerspiegelte«. In einem Punkt jedoch enttäuschte Spengler die Erwartung der völkischen Demagogen. Er attackierte die Relativitätstheorie nicht mit antisemitischen Klischees, obwohl er sich ansonsten nicht scheute, Juden eine »zynische Intelligenz« zuzuschreiben.
Dass die Physik in der Weimarer Republik eine so große kulturgeschichtliche Bedeutung erlangen konnte, war nicht zuletzt dem politischen und geistigen Klima jener Zeit geschuldet. Die militärische Niederlage Deutschlands und der Zusammenbruch der kaiserlichen Ordnung hätten in der »vulgarisierten Quintessenz der Relativitätstheorie ihre vermeintlich wissenschaftliche Begründung« gefunden, so Könneker. Tatsächlich wurde Einstein bis weit über das bürgerliche Lager hinaus grob missverstanden, und zwar dergestalt, dass laut seiner Theorie alles relativ sei und es folglich nichts Festes und Verlässliches mehr gebe.
Anders als in Westeuropa ging in Deutschland die physikalische mit einer politischen Umwälzung einher. Die Rezeption der Relativitätstheorie wurde deshalb vor allem hier mit Begriffen wie »Revolution« oder »Umsturz« verknüpft. Hingegen waren in Frankreich und mehr noch in Großbritannien, dem Mutterland des skeptischen Empirismus, die Physiker eher geneigt, Einsteins Theorien als Erkenntnisfortschritt anzuerkennen.
Der Zerfall des traditionellen Wertesystems nach dem Ersten Weltkrieg bereitete in Deutschland den Nährboden für eine weitere Umwälzung der Physik: die Begründung der Quantenmechanik. Das zumindest behauptet der US-Historiker Paul Forman und beruft sich dabei auf keinen Geringeren als den Physik-Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, der schon 1932 zu dem Schluss gelangt war: Ohne die in der Weimarer Kultur verbreitete Abwertung der Kausalität hätte sich die Quantenmechanik niemals so rasch etablieren können.
Von den alten Eliten des Kaiserreichs wurden seinerzeit nicht nur die Sozialdemokratie und das »internationale Judentum«, sondern auch bestimmte Geisteshaltungen für den Niedergang Deutschlands verantwortlich gemacht. So etwa der »alles erstickende Determinismus der Naturwissenschaften«, der, wie es hieß, dem deutschen Wesen fremd sei. Leben statt Geist, Freiheit statt Gesetz, Schicksal statt Kausalität, forderte Spengler, der dem aufkommenden Pessimismus in Deutschland eine weithin hörbare Stimme gab. Hatte man die Naturwissenschaftler während des Krieges ob ihrer militärischen Erfindungen noch gelobt, wurden sie jetzt angegriffen. »Der abstrakte Gelehrte, der Naturforscher, der Denker in Systemen, dessen ganze geistige Existenz sich auf das Kausalitätsprinzip gründet, ist eine späte Erscheinung des Hasses gegen die Mächte des Schicksals, des Unbegreiflichen«, erklärte Spengler.
Nicht wenige Wissenschaftler reagierten auf diesen Druck und versicherten, dass bestimmte Formen des irrationalen Denkens längst Einzug in die Naturforschung gehalten hätten. Einer von ihnen war der Physiker Arnold Sommerfeld, der 1916 das halbklassische Bohrsche Atommodell insofern vervollkommnet hatte, als er die Kreisbahnen der Elektronen im Atom durch Ellipsenbahnen ersetzte. Offen konstatierte er einen »gewissen Hang der modernen Physik zur pythagoräischen Zahlenmystik«. Sommerfelds Äußerungen zur Physik klängen bisweilen so, schreibt Forman, als seien sie unmittelbar bei Spengler entlehnt worden.
In dieser Atmosphäre begründeten Werner Heisenberg (ein Schüler Sommerfelds), Max Born, Pascual Jordan und andere in den Jahren 1925 bis 1927 die Matrizen- bzw. Quantenmechanik, über deren philosophische Konsequenzen Heisenberg sich einmal wie folgt äußerte: »So scheint durch die neuere Entwicklung der Atomphysik die Ungültigkeit oder jedenfalls die Gegenstandslosigkeit des Kausalgesetzes definitiv festgestellt.« Wie Heisenberg seien viele deutsche Physiker gehorsam dem Zeitgeist gefolgt und hätten, bedingt vor allem durch die Zerfallserscheinungen nach dem Krieg, ihren Glauben an die Kausalität aufgegeben, meint Forman. Ansonsten wären sie vermutlich an der statistischen Natur der atomaren Phänomene verzweifelt. Deshalb habe die Quantenmechanik weder in England noch in den USA entstehen können.
Die Idee, dass die Entwicklung der modernen Atomphysik vom kulturellen Milieu der Weimarer Republik beeinflusst worden sei, hat gewiss etwas Verführerisches. Und sie ist wohl auch nicht ganz von der Hand zu weisen, sofern man den Einfluss lediglich als vermittelt beschreibt. Gleichwohl unterschätzt Forman die innere Dynamik der wissenschaftlichen Erkenntnisfindung, welche die eher äußerlichen Einwirkungen des kulturellen Milieus gewöhnlich weit in den Schatten stellt. Die Frage, ob das Kausalitätsprinzip immer und überall gültig sei, kam in der Tat nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg auf. Der Wiener Physiker Ludwig Boltzmann hatte den klassischen Determinismus bereits 1896 kritisch hinterfragt. Und auch Diskussionen über Statistik wurden seit der atomistischen Begründung der Thermodynamik im 19. Jahrhundert unter Physikern häufig geführt. Überhaupt wäre es ein Irrtum anzunehmen, dass sich die Väter der Quantenmechanik so leichtfertig vom klassischen Determinismus verabschiedet hätten. Sie taten dies mitunter aus Verzweiflung und erst aufgrund stichhaltiger physikalischer Erkenntnisse, deren philosophische Deutung bis heute nicht abgeschlossen ist.
Andere Forscher beugten sich dem Zeitgeist nur halbherzig. Wie der Physik-Nobelpreisträger Wilhelm Wien, der nach dem Ersten Weltkrieg durchaus beeindruckt war von Spengler und der neuen Lebensphilosophie. Zugleich jedoch verwies er auf die große kulturelle Bedeutung der Physik und forderte in seinen Vorträgen eine kausal-rationale Beschreibung der Naturprozesse bis hinein in den atomaren Bereich. Einstein indes hegte nie irgendwelche Sympathien für die in der Weimarer Zeit verbreiteten »antirationalistischen Tendenzen«, die er als schädlich für die Physik ansah. Zwar hatte auch er den »Untergang des Abendlandes« gelesen, sich aber schon früh wieder von Spengler abgewandt. »Man lässt sich gern manchmal am Abend von ihm etwas suggerieren«, schrieb Einstein 1920 in einem Brief an Max Born, »und lächelt am Morgen darüber.«
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