Alles auf Anfang, zurück ins Bett

Die Untere Havel wird auf einer Länge von 90 Kilometern renaturiert und wieder zu einem Refugium für Flora, Fauna und Touristen. Bestandsaufnahme aus Paddlersicht. Von Heidi Diehl

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Beginn ihrer Reise, in Rathenow, sind die Drei noch ganz im Hier und Jetzt. Frieda hat es sich in der Mitte des Kanus bequem gemacht, ihr »Personal«, das sich vor und hinter der Hündin eingerichtet hat, taucht die Stechpaddel mit kräftigen, gleichmäßigen Zügen in die träge dahinfließende Untere Havel. Gemächlich gleitet das Boot vorbei am Optik Park, unterquert die futuristisch geschwungene Brücke, die im vergangenen Jahr zur Bundesgartenschau eingeweiht wurde, links und rechts des Flusses lässt sich ein Blick auf die Stadt erhaschen. Frieda bekommt von all dem nichts mit, sie pennt. Erst als die Kanutinnen in die Stadtschleuse einfahren, öffnet sie kurz ein Auge - um es gleich wieder zu schließen. So richtig aufregend ist das alles noch nicht.

Das wird sich aber bald ändern. Doch das ahnen in diesem Moment weder Frieda noch die beiden Freundinnen, die die nächsten drei Tage auf der Unteren Havel im 1998 gegründeten 1315 Quadratkilometer großen Naturpark Westhavelland paddeln wollen. Die Untere Havelniederung gilt als das größte zusammenhängende Feuchtgebiet des westlichen Mitteleuropas, was bedeutet, dass die Landschaft mindestens ein halbes Jahr unter Wasser steht. Ein Paradies für Flora und Fauna, wenngleich eines mit Ösen und Haken. Noch! Aber die Retter sind bereits dabei, hier die Zeit zurückzudrehen und so der Zukunft eine Chance zu geben.

Die Renaturierung
  • Das Projekt der Havel-Renaturierung umfasst die Schutzgebiete der Unteren Havelniederung zwischen Pritzerbe und der Elbemündung auf einer Fläche von insgesamt 18 700 Hektar.
  • Die praktische Umsetzung begann 2014 und soll bis 2021 abgeschlossen sein.
  • Für das Projekt stehen 23 Millionen Euro zur Verfügung. 75 Prozent kommen vom Bundesumweltministerium, die Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt übernehmen elf bzw. sieben Prozent der Kosten und der Naturschutzbund (Nabu) als Träger des Projekts bringt sieben Prozent ein.

Touristische Informationen:
www.havelland-tourismus.de

Naturpark Westhavelland: www.naturpark-westhavelland.brandenburg.de

Zur Renaturierung der Unteren Havel: www.nabu.de/unterehavel
www.haus-der fluesse.de

Fischerei Schröder: www.fischerei-schroeder.eu

Besonderer Tipp: Im Oktober und November kann jeder selbst zum Flussretter werden. Der NABU sucht Menschen, die mithelfen, Weidenstecklinge zu setzen oder Flächen zu pflegen. Infos und Anmeldung unter: www.nabu.de

Einst war die Havel ein ganz und gar natürlicher Tieflandfluss, der große Niederungs- und Moorgebiete durchfloss und im Unterlauf ein großflächiges Binnendelta bildete. Jahrtausende konnte der Fluss vor sich hinmäandern und Nebenarme bilden. Mittendrin entstanden Inseln, Auenwälder, breite Schilfgürtel wuchsen im Uferbereich und boten vielen Tieren Schutz, Rast- und Brutplätze. Üppig und vielartig wucherte die Vegetation. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Mensch begann, die Havel zu regulieren und sie zur Wasserstraße ausbaute. Ufer wurden mit Steinen versiegelt, Nebenarme abgeschnitten oder ganz zugeschüttet, Deiche, Staustufen und Entwässerungsgräben gebaut. Noch erwehrte sich die Natur so gut es ging tapfer der menschlichen Unvernunft. Wirklich kapituliert hat sie erst in den 1970er Jahren, als es durch die Ausbaggerung des Flusses möglich wurde, große Schubschiffe hindurchzuschleusen, als weite Flächen entwässert wurden und sich mehr und mehr Industrie an seinem Ufer ansiedelte, dessen Abwässer den Fluss immer stärker belasteten. Viele Tier- und Pflanzenarten konnten dem nichts entgegensetzen und verschwanden.

Das alles erfahren die Padlerinnen von Katja Brunow vom Tourismusverband Havelland, die sie bei einer Rast auf dem nicht weit hinter Rathenow gelegenen Biwakplatz Göttlin treffen. Allerdings müssen sie ziemlich ungläubig geschaut haben, denn die Landschaft, durch die sie ihr Kanu bislang gesteuert haben, macht den Eindruck, als hätte seit der Weichselkaltzeit, die sie vor 10 000 Jahren prägte, hier niemals jemand Hand angelegt. »Genau das Gegenteil ist der Fall«, erklärt Katja, »weil sich hier seit einigen Jahren die Menschen wieder einmischen, mäandert die Untere Havel an einigen Stellen schon wieder ganz natürlich.«

Möglich geworden ist das durch das größte Renaturierungsprojekt, das der NABU jemals an einem Fluss gestartet hat. Bis 2021 soll in einem Teile Brandenburgs und Sachsen-Anhalts umfassenden Gebiet von insgesamt 19 000 Hektar auf einer Länge von 90 Kilometern zwischen Pritzerbe und der Havelmündung nordwestlich von Havelberg alles auf Anfang gesetzt und der Unteren Havel ihr altes Bett zurückgegeben werden. 29 Kilometer künstlich angelegte rund 60 Zentimeter dicke Steinschüttungen, sogenannte Deckwerke, verschwinden, 15 verschlossene Flussaltarme und 49 zum Teil zugeschüttete Flutrinnen werden freigelegt und wieder mit der Havel verbunden, zwei Deiche zurückgebaut, 17 Uferverwallungen abgetragen und 89 Hektar Au- und Uferwald neu gepflanzt. All das trägt dazu bei, dass der Fluss wieder ungehindert fließen kann, die Auen überschwemmt und neues Leben zurückkehrt.

Erste Ergebnisse sind bereits sichtbar. Wo einst Steine verhinderten, dass sich Schilf und andere Pflanzen ausbreiten können, wuchert heute wieder üppige Vegetation, die Fischen und kleinen Tieren Unterschlupf bietet. Mit einem bisschen Glück kann man auch wieder Biber und Fischotter entdecken.

Die bekommen die Paddlerinnen und ihre Hündin zwar nicht zu sehen, dafür aber jede Menge Wildgänse, Libellen, Vögel und Fische, die ebenso pfeilschnell aus dem Wasser springen, wie sie wieder abtauchen. Jetzt ist auch Frieda hellwach und putzmunter, und wenn ihr »Personal« hin und wieder an versteckten Badebuchten anhält, und sie ausgelassen durchs klare Wasser toben kann, hält sie nichts im Kanu.

Viel Verkehr ist nicht, nur ab und an begegnen die Drei anderen Paddlern und hin und wieder floßähnlichen Hausbooten. Längst sind ihre Sinne für den Zustand der Natur geschärft. Bald schon erkennen die Padlerinnen bereits aus der Ferne an der Üppigkeit der Vegetation, wo die Deckwerke verschwunden sind, und sumpfige Wiesen verwandeln sich in der Betrachtungsweise von eklig und schlammig in ein Biotop voller Leben. Was für ein Gefühl, erleben zu dürfen, wie gut sich ein Zurück in die Zukunft anfühlt.

Die Tage im Kanu fließen ruhig und gemächlich dahin wie die Untere Havel an den Stellen, wo man sie bereits von ihrem einengenden Korsett befreit hat. Am Ende der Reise kehren die Freundinnen in Strodehne bei Fischer Wolfgang Schröder ein, dessen Familie in vierter Generation die Fischereirechte auf dem Gülper See besitzt. Der ist ansonsten für alle tabu, weder Bootfahren, Baden oder Angeln sind erlaubt. Der See und die umliegenden Flächen gehören zu den europaweit bedeutendsten Rast-, Nahrungs- und Brutgebieten für Wasser- und Watvögel. Jedes Jahr nutzen Zehntausende Gänse, Kraniche, Enten und Watvögel den Gülper See zur Rast auf ihren kräftezehrenden Vogelzügen. 2009 hat der Bund ihn in die Verantwortung der NABU-Stiftung Nationales Naturerbe übergeben. Nur die Fischereirechte blieben bei Wolfgang Schröder. Von den rund 40 Fischarten im See fängt er 15, die er verarbeitet und im eigenen Laden oder an Gäste, die er gern selbst bekocht, verkauft. Die Padlerinnen gönnen sich zum Abschluss ihrer Tour eine Hechtklöschensuppe, die heute leider nur noch wenige zuzubereiten wissen. Schröder ist mit ihr groß geworden und kocht sie so, wie schon seine Vorfahren.

Bei diesem köstlichen Duft hält auch Frieda nichts mehr auf ihrem lieb gewordenen Platz im Bootsbauch. Nachdrücklich besteht sie auf ein Leckerli. Und das hat sie sich auch verdient nach dieser aufregenden Zeitreise in die zukünftige Vergangenheit.

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