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In den Bergen Patagoniens: Wandern durchs chilenische Hochland
Wer neue Regionen erkunden will, geht im Patagonia-Nationalpark oder im Massiv des Cerro Castillo auf Tour – im Revier von Pumas und Guanakos
Die Wächter sind überall! Wie Statuen harren einzelne Guanakos auf den Hügelkuppen im Tal von Chacabuco aus, lassen ihre Blicke über das hohe Gras schweifen, geben keinen Mucks von sich. Bis der Puma kommt. Reste eines Skeletts am Wegesrand zeugen davon, dass die Wachtposten nicht alles im Blick haben können. Alle paar Meter liegen ein paar ausgebleichte Knochen.
»Dieses Gelände ist ideal für die Raubtiere«, sagt Poncho. »Sie kommen immer von oben, tasten sich vor, ducken sich hinter Grasbüscheln und Dornensträuchern – und schießen dann blitzschnell los.« Alfonso de la Torre, Spitzname Poncho, arbeitet seit drei Jahren im Patagonia-Nationalpark in den südchilenischen Anden, auf halbem Weg zwischen Puerto Montt und Punta Arenas.
Seinen früheren Job als Werbefotograf hat der 30-Jährige aufgegeben, um mehr Zeit in der Natur zu verbringen – angefangen mit einer viermonatigen Ausbildung im Winter. »Wir waren bei jedem Wetter draußen, manchmal bis zur Hüfte im Schnee. Ein bisschen wie beim Militär, aber es hat uns als Team zusammengeschweißt.« Der Bergführer nutzt jede frei Minute, um Tiere zu fotografieren – auch Pumas.
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Der Wind pfeift durch das Pampasgras in der Steppenlandschaft des Schutzgebiets, graue Wolken hängen über dem Tal. Eine Handvoll Wanderer folgt dem Guide auf dem schmalen Pfad. Dass hier Pumas, Pampaskatzen, Nandus und Andenschakale unterwegs sind, sei nicht selbstverständlich, erklärt Poncho: Vor 20 Jahren erstreckte sich hier noch eine heruntergewirtschaftete Estancia, ein Landgut.
Als Douglas und Kris Tompkins, einst Chefs der Firmen North Face, Esprit und Patagonia, das Land vor Jahrzehnten kauften, waren die Böden von 30 000 Schafen überweidet, die einheimischen Tierarten fast ausgerottet. Hunderte Freiwillige entfernten 600 Kilometer Zäune und pflanzten wieder indigene Gewächse. Die Jäger, die zuvor für das Abschießen der Pumas zuständig waren, wurden nun für deren Schutz verantwortlich.
Bald darauf kehrten die wilden Tiere zurück, darunter auch der seltene Huemul. Poncho zückt seine Kamera und zeigt Bilder dieses Andenhirsches, von dem es auf dem gesamten Kontinent nur noch 1500 Exemplare geben soll. »Etwa ein Zehntel davon lebt hier im Park«, sagt der Bergführer. »Eure Chancen auf eine Begegnung stehen also nicht schlecht.« Doch heute bleibt es bei Guanakos.
Die Tour führt weiter bergauf durch die Steppe, die von gelb blühenden, kugeligen Büschen überzogen ist. Meterhohe Findlinge – einst Verstecke für die Jäger des Tehuelche-Volkes – säumen den Pfad, der schließlich abrupt an einer Felskante endet: In der Tiefe erstreckt sich die Laguna Cisnes, der See der Schwäne.
Sonnenstrahlen, die wie Suchscheinwerfer durch die dahinjagenden Wolken fallen, veranstalten Farbspiele auf dem Schilfmeer, den Sandstränden und weiß glitzernden Salzflächen. Ein Schwarm Flamingos fliegt auf, ihr rosa Gefieder schillert vor dem düsteren Himmel – ein unerwarteter Anblick im tiefsten Patagonien.
Das Tal von Chacabuco ist nur eines von vielen Ökosystemen in dem 300 000 Hektar großen Schutzgebiet. Man braucht einige Tage, um sie alle kennenzulernen: die tosenden, türkisblauen Wasser des Rio Baker, des wasserreichsten Flusses Chiles; die von Flechten und Moosen überzogenen Scheinbuchenwälder; die leergefegte Pampa an der Grenze zu Argentinien und die schneebedeckten Gipfel der Anden.
Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Landschaften zu erkunden: klassisch beim Camping und Trekking oder luxuriös in der einst von Tompkins entworfenen Lodge mit ihrem Team von Bergführern wie Poncho. Dieser führt am letzten Tag zum Lieblingsplatz des Parkgründers, wo der Blick über Bergseen und schneebedeckte Gipfel reicht – darüber kreist ein Kondor und macht das Klischee komplett.
Doch das Vermächtnis des Umweltmäzens, der 2015 bei einem Kajakunfall ums Leben kam, reicht über den Patagonia-Nationalpark hinaus: Im Jahr 2018 übergab die Tompkins-Stiftung den Park und weitere Gebiete an den chilenischen Staat. Damals entstanden rund 4,5 Millionen Hektar neue Schutzgebiete, die sich auf der 2800 Kilometer langen »Route der Parks« aneinanderreihen.
Darunter ist auch der Nationalpark Cerro Castillo, knapp fünf Autostunden nördlich des Patagonia-Parks. Schon bei der Anfahrt über die Schotterpiste der Carretera Austral fallen die schneebedeckten Felszacken und Zinnen ins Auge, die dem burgähnlichen Massiv seinen Namen gaben. Das Dorf Villa Cerro Castillo mit seinen bunten Häuschen aus Schindeln, Holz und Wellblech wirkt auf den ersten Blick wie ein Pionierort im Wilden Westen.
- Anreise: Mit dem Flugzeug (latam.com, iberia.com) über Santiago de Chile nach Puerto Montt, dann weiter im Mietwagen über die Carretera Austral, alternativ bis zum Flughafen Balmaceda, dann weiter mit Mietwagen oder Transfer.
- Übernachten: Die luxuriöse Explora-Lodge ist die einzige Unterkunft innerhalb des Patagonia-Parks (explora.com). Alternativ gibt es Campingplätze (ohne Reservierung). Besonders authentisch in Cerro Castillo ist die Hospedaje La Casona (Mary Sandoval, Tel. +56/97/106 35 91).
- Reisezeit: Gemäßigtes Klima im Südsommer von Dezember bis März, im Herbst ab April bunte Laubfärbung der Scheinbuchen und günstigere Preise.
- Auskunft: Chile-Tourismus informiert unter www.chile.travel/de. Die chilenische Forstverwaltung ist für die Nationalparks zuständig, www.conaf.cl
Doch der verschlafene Eindruck täuscht. »Wir sind der neue Hotspot der chilenischen Bergsteiger- und Kletterszene«, sagt Hugo Castañeda, der vor gut zehn Jahren hierhergezogen ist. Er ist ein weiterer Aussteiger. »Meinen Job als Ingenieur habe ich hingeschmissen, um nur noch zu wandern und klettern«, sagt der 39-Jährige, der in einem Haus ohne Strom lebt und seinen Lebensunterhalt in einer Kooperative von Bergführern verdient.
Seine Tour zum Kennenlernen führt zum Mirador Tehuelche, einem Aussichtspunkt über dem weit verzweigten Lauf des Río Ibañez. Einen richtigen Weg gibt es nicht: Hugo führt über Viehweiden und vorbei an kleinen Gehöften, öffnet und schließt immer wieder Gatter, die mit komplizierten Knoten verschlossen sind. Auf den blühenden Wiesen tummeln sich Schweine und Pferde, über einem Zaun hängen Schafsfelle zum Trocknen.
»Die Menschen hier leben vom Land, sie stehen dem Tourismus noch skeptisch gegenüber«, erklärt er. Das führt manchmal zu Konflikten, denn die meisten der Wander- und Kletterrouten beginnen auf Privatgrund. »Man sollte sich Zeit nehmen für die Kultur der Region – grüßen, plaudern, um Erlaubnis fragen, etwas kaufen. Wer nichts zur Community beiträgt, gilt schnell als Schnorrer.«
Am nächsten Morgen geht es zur Gletscherlagune im Herzen des Massivs – das Highlight des Nationalparks. Gleich hinter dem Registrierungs-Kiosk verschluckt dichter Wald die Bergsteiger. Manche der knorrigen Scheinbuchen sehen mit ihren Flechtenfahnen aus wie überdekorierte Weihnachtsbäume. Bäche plätschern durch das Grün – hin und wieder trinkt Hugo daraus, er hat deshalb auf eine Trinkflasche verzichtet.
Bald geht der Wald in Buschland über, in dem neben halb zerfallenen Baumstämmen exotische Pflanzen wachsen: Feuersträuche mit bohnenartigen Samen, flauschige Reste verwelkter Anemonen, weiß blühender Romerillo und Torfmyrte mit violetten Beeren – das Lieblingsfutter der Andenhirsche. Ein eisiger Wind bläst im letzten, nicht enden wollenden Abschnitt über Geröllfelder.
Doch die Kälte ist bei der Ankunft am Mirador schnell vergessen: Tief unten im Tal liegen die Häuser von Villa Cerro Castillo wie kleine Würfel, daneben der glitzernde Lauf des Río Ibañez – und in der Ferne schimmern die Berge Argentiniens. Die Wolken haben endlich auch die Felsspitzen des Castillo freigegeben, Sonnenstrahlen streifen über den Gletscher und die türkisblaue Lagune.
Schweigen unter den Wanderern. Nur ein verirrter Churrete, ein Uferwipper, piepst seinen Protest gegen die Besucher heraus. In ein paar Minuten wird er den Berg wieder für sich haben – wie an den meisten Tagen des Jahres im einsamen Patagonien.
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