Allesfahrer mit Fahne
Union-Fan Tobias Möhring besucht fast alle EM-Spiele und organisiert das Aufhängen deutscher Transparente
Tobias Möhring opfert seinen ganzen Jahresurlaub für die EM. Dennoch ist der 36-Jährige gerade ständig im Stress. Er hat in der Vorrunde an jedem der 13 Spieltage eine Partie besucht. Im Achtelfinale waren es drei. Von den Viertelfinalmatches sieht er sich sogar alle vier im Stadion an. Trotz all der Reiserei gehört er stets zu den ersten Besuchern in der Arena. Schließlich soll seine Zaunfahne einen guten Platz bekommen und oft im Fernsehen zu sehen sein. Und so sieht man »HALLE/S.« in großen schwarzen Lettern auf weißem Grund in jedem Stadion.
Möhring hat es schon an viele Orte verschlagen. Geboren wurde er in Berlin. Mit dem Berufswechsel des Vaters zog er im Alter von sieben Jahren nach Halle an der Saale. Er kickte für den Nachwuchs des Halleschen FC und für Eintracht Bitterfeld in der Verbandsliga. Heute arbeitet er am Stuttgarter Flughafen. Möhring hat die Zusage am neuen Berliner Flughafen arbeiten zu können. Dass es bis dahin aufgrund der sich hinziehenden Arbeiten am BER noch dauern wird, nimmt er mit Humor.
Aber für den Fan des 1. FC Union Berlin würde sich die Anreise zu den Heimspielen der Köpenicker drastisch verkürzen. Noch ist jede Partie ein Auswärtsspiel, schließlich reist er stets von Stuttgart an. Insofern sind seine 32 Spiele in der Saison 2015/16 beachtlich. Im Jahr davor war er sogar bei 33 von 34 möglichen Partien dabei. »Wir haben einen Stamm von zehn bis 15 Exil-Unionern. Mit dem Fanclub Sachsenadler haben wir uns als Sektion Halle zusammengeschlossen«, erzählt Möhring.
Union scheint Möhrings Fußballsucht aber nicht zu stillen, denn er gehört zu den rund 100 »Allesfahrern« der deutschen Nationalmannschaft. Fans also, die mindestens 90 Prozent der Spiele von Joachim Löws Mannschaft mitnehmen. »Seit der EM 2004 habe ich alle deutschen Länderspiele gesehen, mit einer Ausnahme«, so Möhring. »Das Freundschaftsspiel im November 2011 in der Ukraine habe ich verpasst, weil ich meinen Reisepass nicht dabei hatte. Ich dachte, der Personalausweis würde reichen.«
Auch bei Länderspielen gibt es zahlreiche Fahnen an den Stadionzäunen. Die bekannteste ist wohl die mit der Aufschrift »Air Bäron«, die seit 1998 und noch bis heute an den früheren Hamburger Bundesligaspieler Karsten Bäron erinnert. Möhring glaubt, dass seine »Halle/S.«-Fahne aktuell die drittälteste im DFB-Tross ist. Seit der Saison 1999/2000 macht sie bei Länderspielen auf die Stadt seiner Jugend und den 1. FC Union aufmerksam, bei dessen Spielen die Fahne sonst immer hängt.
Inzwischen gehört Möhring sogar zum elitären Kreis jener Fahnenbesitzer, der bei Länderspielen das Aufhängen der deutschen Transparente organisiert. »Ich mache das seit acht Jahren, unterstützt vom DFB. Bei Heimspielen bekomme ich einen Tag vorher 20 bis 30 Pakete mit allen Fahnen«, erzählt Möhring. Dabei gibt es ungeschriebene Gesetze. Transparente werden nur aufgehängt, wenn Besitzer oder Personen des dazugehörigen Fanclubs auch vor Ort sind. Die besten Plätze bekommt, wer schon am längsten und häufigsten kommt, auch beim Verein immer da ist und mehr Urlaub opfert. Der Markt reguliert sich selbst, weil jeder weiß, wer hinter welcher Fahne steckt.
In Frankreich ist das Behängen der Zäune nicht ganz so einfach. Möhring gehört einer vierköpfigen Gruppe an, die sich mit Vertretern der UEFA und Ordnungsdiensten jede Partie aufs Neue auseinandersetzen muss. Entsprechend einer Richtlinie des europäischen Dachverbands sollen die Banner möglichst nicht breiter als zwei Meter und nicht höher als 1,50 Meter sein. »Wir haben einen Fan, der Französisch spricht. Der erklärt dann, was auf der Fahne steht«, sagt Möhring.
Wer sein Transparent wehen sehen will, muss es am Spieltag bis 10 Uhr bei der »Fahnentruppe« abgeben. Treffpunkte werden über Facebook und WhatsApp ausgemacht. Möhring & Co. behängen die Zäune dann schon lange vor der offiziellen Stadionöffnung. Bei jedem deutschen Spiel sind es 150 bis 200 Fahnen. Wer erst kurz vor dem Anpfiff mit seinem Banner die Sicherheitskontrollen passiert, kann Pech haben. »Wenn die Leute beim falschen Ordner landen, müssen sie die Fahne abgeben. Sie wird dann in einem Container gelagert.«
Bisweilen verwehren auch Möhring und seine Mitstreiter die Zulassung. »Wenn eine Fahne mit rechtsradikalem Hintergrund hängen würde und wir hätten die durchgewunken, würde uns die Akkreditierung entzogen werden«, sagt Möhring. Auch Banner mit der Abkürzung »acab« (englisch für: »Alle Bullen sind Schweine«) müssen sie herausfiltern.
Bis zu 15 000 deutsche Fans sind zur EM gereist. Allerdings hat die Unterstützung in den vergangenen Jahren spürbar nachgelassen. Insider glauben, dass das auch an den Maßnahmen liege, mit denen der DFB den Zugang zu Eintrittskarten erschwert. Aus Sicherheitsgründen werden Mitglieder des Fanclubs Nationalmannschaft beim Verkauf der Tickets zuerst berücksichtigt. Das schreckt jene ab, die lieber unabhängig bleiben wollen. »Viele Ultras identifizieren sich nicht mehr mit der Nationalelf. Und wenn sie nicht im Stadion sind, herrscht im Fanblock auch keine Stimmung«, sagt Möhring. »Viele haben auch eine Abneigung gegen den DFB. Ich differenziere da zwischen Verband und Team. Für mich ist die Nationalmannschaft immer noch das Aushängeschild im deutschen Fußball. Als kleiner Junge war es mein Traum, Nationalspieler zu werden.«
Bis zum Ende der Viertelfinalpartien bleibt Möhring auf jeden Fall in Frankreich. Erreicht Deutschland an diesem Samstag das Halbfinale, besuchen er und seine Freunde auch beide Semifinals. Lyon und Marseille liegen nicht so weit auseinander. Er verdient offenbar genug, spart alles für diese Fahrten und reist kostengünstig in der Gruppe.
Kommt Deutschland ins Finale, will Möhring am 10. Juli auch nach Saint-Denis. Im Stade de France saß er auch am 13. November vergangenen Jahres, als Paris am Abend des Länderspiels zwischen Frankenreich und Deutschland von mehreren Anschlägen erschüttert wurde. Diese sind wohl auch der Hauptgrund dafür, dass der Ticketkauf selbst an EM-Spieltagen relativ kostengünstig ist, glaubt Möhring: »Durch die Attentate in Paris und die Warnungen im Vorfeld wollten viele nicht nach Frankreich fahren. Wir passen schon auf, aber nach drei Wochen ist der Respekt nicht mehr so groß wie am Anfang.« Er fühle sich sicher, sagt er. Die Kontrollen würden aber nicht den Maßstäben entsprechen, die er erwartet hätte. »Ich dachte, dass man wie bei der WM in Brasilien überall Röntgengeräte, Scanner und Handsonden hat. Die gibt es hier nicht«, sagt Möhring.
Läuft alles weiter reibungslos ab, werden Möhrings Erinnerungen nach dem Turnier positiv bleiben - trotz der Reisekosten zwischen 3000 und 4000 Euro. Seine Fahne hat es oft ins Fernsehen geschafft.
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