Wales stellt Belgien ein Bein
Mit Hal Robson-Kanu hat ein Arbeitsloser großen Anteil daran, dass der Favorit auf die Heimreise geschickt wurde
Wenn sich am Tag danach die walisischen Anhänger mitunter wie Geistergestalten, bleich und stumm, durch öffentliches Gelände bewegen, dann fragen sich Nicht-Fußballfans: Was bloß ist mit denen geschehen, die ein feuerrotes Trikot mit Drachenlogo tragen, das ein bisschen muffelt? Am Gare Europe in Lille schlugen am Wochenende viele Waliser auf, die nach dem historischen Viertelfinalsieg gegen Belgien (3:1) zurück auf die Insel mussten, um am Montag wieder am Arbeitsplatz zu erscheinen. Direkt neben der Fanzone von Lille gehen aus der verglasten Verteilstation nach einer Zugangs- und Passkontrolle mit schwer bewaffneter Gendarmerie die Schnellzüge durch den Eurotunnel.
Warum die Gäste aus dem westlichen Teil des Vereinigten Königreichs so verkatert aussahen, war schnell klar: Weil sie ein- oder zweimal zu viel auf die Sensation angestoßen haben. Warum sie so wenig sprachen? Weil sie heiser waren. Kann vorkommen, wenn andauernd neue Lieder geträllert werden müssen. Nur mit dem Singen der Nationalhymne war es ja nicht getan. Speziell vor den Hotelketten direkt am Stade Pierre-Mauroy unter den großen Sonnenschirmen, die in dieser magischen Nacht mehr als Regenschutz dienten, erklang eine neue Variante: »Hal...Rob-son. ... Hal Robson-Kanu.«
Angelehnt an einen Klassiker der amerikanischen R&B-Band Salt ’n’ Pepa, zu deren größten Erfolgen die vor fast 30 Jahren herausgegebene Single »Push It« zählte. Auf deren zackige Melodie ist nun die Eloge auf den nächsten Heroen getextet worden. Erfolg macht erfinderisch. Und warum nicht darauf reagieren, wenn ein Turnier so unerwartet verläuft. Und wäre ja auch langweilig gewesen, wenn immer nur der Evergreen »Don’t take me home« durch die Vorstadt Villeneuve-d’Ascq geschwappt wäre. Nun also ein Kultsong für eine Kultfigur, die zwar die Nummer neun mit zur EM trug, aber gewiss nicht als Anwärter zum »Man of the match« nach einem Belgien-Spiel nach Frankreich kam.
»Wir haben hart gearbeitet für diesen Tag. Wir haben uns nach Jahren belohnt und unsere Nation ist stolz - wir sind es auch«, sagte Robson-Kanu. »Wir haben eine Chance ergriffen für alle Waliser, die hier sind.« Der 27-Jährige, der sich nach ersten Einsätzen in der englischen U 20-Nationalelf erst vor sechs Jahren an die walisische Oma erinnerte, um die internationale Karriere fortzuführen, ist auch dabei, um ein bisschen für sich Werbung zu machen. Offiziell ist der in London geborene Stürmer seit wenigen Tagen vereinslos. Zweitligist FC Reading und der Spieler hatten früh beschlossen, den Vertrag nicht zu verlängern. »Nach zwölf Jahren ist es an der Zeit, etwas Neues zu machen.«
Seine Vita ist beispielhaft für viele seiner Kollegen, die nur Reservisten oder Randfiguren in England sind. Dass ihm sein Teamchef Chris Coleman eine Rolle als Stoßstürmer neben Superstar Gareth Bale gibt, kann eingedenk seiner bisherigen Länderspielbilanz (34 Einsätze/vier Tore) als Vertrauensvorschuss gelten. Dass ein Weltstar sich lediglich als Teamplayer betätigte (»Wir haben das unglaublich gut umgesetzt, um jeden Zentimeter gekämpft«), während ein Nobody ins Rampenlicht trat, passte gut zum Credo unter Coleman: »Together. Stronger.« Auch die britischen Zeitungen trugen dem Coup Rechnung. »Yes, We Kan«, hieß es beim »Mirror«, der schrieb: »Robson-Kanu verwandelte sich in eine Mischung aus Johan Cruyff, Lionel Messi und Pele.«
Ein wenig übertrieben, gewiss, aber wie der 1,83-m-Mann beim vorentscheidenden 2:1 den Ball mit der Hacke umlegte und eiskalt vollstreckte, das verriet viel von Übermut, Selbstvertrauen, Können und Dreistigkeit, mit der die »Dragonhearts« gerade gesegnet sind. Ein Arbeitsloser schickte die zumeist in der Premier League angestellten belgischen Stars auf die Heimreise. »Es ist gut für mich und meine Familie, dass ich meine Zukunft nun selbst in meinen Händen habe«, erklärte der Matchwinner genüsslich. Sollte wohl heißen: Wird sich schon noch einer finden, der mich verpflichtet. Die meisten aber spielen nur nachrangig um bessere Bezüge oder neue Verträge. Mut. Unerschrockenheit. List. Leidenschaft. Das treibt den Außenseiter an. »Ich kann mir vorstellen, dass drei Millionen Menschen zu Hause völlig durchdrehen und sie verdienen das«, sagte Coleman.
Deshalb ist seine Elf trotz der Sperren gegen Ben Davies und Aaron Ramsey auch ganz und gar nicht gewillt, die eigene Tour de France mit der Etappe am Mittwoch abzubrechen. Im Halbfinale in Lyon gegen die wahrlich bislang nicht übermächtigen Portugiesen lässt sich nicht vermeiden, dass alles vom Duell zwischen Bale und seinem Gegenüber Cristiano Ronaldo spricht. Zwei Real-Stars, die in völlig unterschiedlichen Rollen für ihre Heimat unterwegs sind. Robson-Kanu hat sich schon seine Meinung gebildet: »Beides sind Weltklassespieler. Aber wir haben den Weltklassespieler, der besser ist.« Wer weiß, vielleicht ertönt ja noch mal seine Hymne.
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