Es ist Fußball und keiner geht hin

Die Feuilleton-EM-Kolumne

Stellen Sie sich vor, Sie sind im Urlaub und flanieren durch eine dieser Gastro-Dschungel-Gassen beispielsweise in Italien. Links: Pizza Tonno und rot-weiß karierte Tischdecken. Rechts: Thunfischpizza und blau-weiße Tischdecken. In dem einen Lokal sitzt außer dem Koch, der am Tisch neben der Bar Telenovelas guckt, niemand. In dem anderen gegenüber herrscht die herrlichste Stimmung. Junge und ältere Gäste prosten sich über die Tische hinweg zu. Der Koch wird herbeizitiert, weil man ihm großes Lob aussprechen will.

Sicher ist, es wird immer Menschen geben, die aus Prinzip neben dem einsamen Koch Platz nehmen und sich davon einen molligen Abend voller Authentizität versprechen. Die meisten aber sind nicht gern allein. Das Kalkül ist simpel. Die Sache könnte in die Hose gehen (der Thunfisch war nicht gut) und dann ist man der einzige Trottel gewesen. Bei Emotionen verhält es sich ähnlich. Das spontan freigesetzte Dopamin beim verschossenen Tippel-Elfmeter von Simone Zaza verstärkt sich noch, umso mehr Menschen um einen herum in gehässiges Gelächter verfallen. Beim Fußball sind solche Ad-hoc-Emotionen derart häufig, dass sich nur hier das sogenannte Public Viewing durchgesetzt hat.

Nun zeigt uns aber diese EM, dass der Mensch überhaupt kein Herdentier ist, wie immer behauptet wird. Am Brandenburger Tor müssen die Sendeanstalten mittlerweile auf die ersten fünf Reihen draufhalten, damit es dort irgendwie nach Stimmung aussieht. Wer geblieben ist, das sind die XXL-Deutschlandmützen-TrägerInnen, die aggressive Auseinandersetzungen mit denen führen, die hinter ihnen stehen müssen. Vom fröhlichen Partypatriotismus mit Hitlergruß ganz zu schweigen. Das ist alles unerträglich.

In diesem Jahr fehlen die hektischen SMS kurz vor dem Spiel: »Wo guckt ihr?« und »Haltet mal bitte noch zwölf Plätze frei, wir kommen gleich.«

Selbst in den Kneipen sitzen nur noch Desinteressierte, die vor dem vorsichtshalber aufgestellten Fernseher zwangsverpflichtet werden, zuzusehen oder betrunkene Norwegerinnen, die nach der Wechselbestellung Weißwein-Aperol-Radler-Weißwein-Schnaps erzählen, dass sie bei Belgien gegen Wales eher für Wales seien, weil der andere Außenseiter, Island, eben gerade nicht spielen kann. Dann geht es 90 Minuten darum, wie billig Wohneigentum in Berlin im Vergleich zu Oslo sei. Am Ende fragt sie, wo sie mit dem Neffen am besten das nächste Spiel gucken könne. Unser Tipp: Brandenburger Tor.

Also bleibt beim nächsten Mal nur noch das eigene Zuhause. Fußballgucken wird wieder Privatsache. Das haben sich alle anderen Nachbarn auch gedacht und so kreischt es wahlweise sechs Sekunden zeitversetzt durch die Wand aus der Studenten-WG links nebenan (die armen müssen Livestream gucken, während wir mit unserer königlichen DVB-T-Antenne in deren Zukunft schauen). Oder es reißt der Unternachbar bei jedem deutschen Tor die komplette Wohnzimmereinrichtung um. Einer, der mit Deutschland-Schlüsselbund und Badelatschen am Tag unseres Einzugs klingeln kommt, um zu verkünden: »Im Haus mögen wir es gerne ruhig.« Langsam werden einem Menschen sympathisch, die nach einem gewonnenen Spiel Anzeige wegen hupender Autos erstatten.

Nach den Reinfällen Kiezkneipe und Zuhause bleibt also nur: der Umzug.

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