Das Erwachen der Schläfer
In Deutschland, den USA und anderen westlichen Ländern haben rassistische Bewegungen immer mehr Zulauf. US-amerikanische Wissenschaftler suchen nach Ursachen und haben den »aktivierten Autoritarismus« gefunden
Manchmal ist das, was nach einem Attentat nicht gesagt wird, erhellender als das, was gesagt wird. »Das ist eine Schande, das ist beschämend für Deutschland«, urteilte Bundeskanzlerin Angela Merkel, nachdem im November 2011 die Existenz des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) bekannt geworden war. Deutlicher noch äußerte sich Außenminister Guido Westerwelle: »Das ist vor allem sehr, sehr schlimm für das Ansehen Deutschlands in der Welt.« Davis S., der Attentäter von München, hat an einem Tag fast ebenso viele Menschen getötet wie der NSU, und der Verdacht, dass hier ein Rechtsextremer aus rassistischen Motiven mordete, hat sich erhärtet. Ist er auch eine Schande für Deutschland? Es war noch nichts dergleichen zu hören, und der Grund dafür ist wohl nicht, dass nun Empathie für Opfer und Angehörige Vorrang hat.
Ein von einem Balkon nahe dem Tatort in München aufgenommenes Video verdeutlicht den Grund dafür. Ein Schreihals, der intuitiv auf große Entfernung ethnische Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft erfasst zu haben glaubt, beschimpft mit rassistischen Beleidigungen einen rassistischen Mörder, der gerade neun Menschen erschossen hat, empört »Ich bin Deutscher!« ruft und die Antwort bekommt: »A Wixa bist du.« Schön, dass wir mal über unsere nationale Identität geredet haben.
Jörn Schulz, geb. 1961 in Hamburg, studierte Geschichte und Islamwissenschaft. Seit 1991 schreibt er über Politik, Islam und Geschichte. Er ist Redakteur im Auslandsressort der linken Wochenzeitung »Jungle World«.
So einfach ist es eben nicht, Deutscher zu sein, wenn man iranische Eltern hat. Dafür sorgen nicht nur Männer wie der Schreihals vom Balkon und jene Rechten, die nun stur an der Behauptung festhalten, es habe sich um einen dschihadistischen Anschlag gehandelt. Eine Schande für Deutschland kann nur sein, wer dazugehört. David S. gehörte nicht dazu, auch wenn offizielle Verlautbarungen über Menschen mit Migrationshintergrund etwas anderes behaupten.
Ohne Migration lässt sich die Konkurrenzfähigkeit einer Nationalökonomie im globalisierten Kapitalismus nicht erhalten und verbessern. Dieser Tatsache tragen mittlerweile selbst in Deutschland diverse Gesetze Rechnung, die Einwanderung und Einbürgerung erleichtern. Im gesellschaftlichen Leben aber werden Menschen mit Migrationshintergrund weit über den Kreis der extremen Rechten hinaus nicht als »richtige« Deutsche gesehen, egal welche Anpassungsleistungen sie erbringen. Wenn etwa das geplante bayerische Integrationsgesetz auch längst eingebürgerte Menschen mit Migrationshintergrund erfassen soll, wird deutlich, dass die Gleichbehandlung aller Staatsbürger für die CSU nicht selbstverständlich ist.
So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel möglicherweise taktische Motive, wenn sie das Attentat von München nicht politisch kommentiert. David S. könnte auch als Beispiel für die Gefahren der bereits erfolgten Einwanderung angeführt werden. Dass es der populistischen Rechten nicht allein um die Flüchtlinge geht, belegen zahlreiche Äußerungen aus diesem Milieu, jüngst etwa über Fußballnationalspieler mit Migrationshintergrund; bei rassistischen Übergriffen wird ohnehin nicht nach der Staatsbürgerschaft gefragt. Merkel steht bereits unter erheblichem Druck des rechten Flügels der CDU/CSU, sich dem Rechtspopulismus stärker anzupassen.
In den USA ist der Damm bereits gebrochen, dort wird ein rassistischer Schreihals mit der Unterstützung der meisten Republikaner für die Präsidentschaft kandidieren. Donald Trump hat eigene Vorstellungen davon, wer ein »richtiger« Amerikaner ist und wer nicht. So bezeichnete er den in New York geborenen und in den USA aufgewachsenen Omar Saddiqui Mateen, den Attentäter von Orlando, als »geborenen Afghanen«. Aber auch respektablere Amerikaner mit im Ausland geborenen Eltern bürgert Trump verbal wieder aus. Gonzalo Curiel, als Kind aus Mexiko eingewanderter Eltern in Indiana geboren, gilt ihm als »Mexikaner«, seit der Richter das unverzeihliche Verbrechen begangen hatte, in einem juristischen Streitfall gegen Trump zu entscheiden. Die logische Schlussfolgerung ist, dass auch Marco Rubio, der bei den republikanischen Vorwahlen gegen Trump antrat, als Sohn kubanischer Eltern kein echter Amerikaner sein kann.
Der Erfolg Trumps ist umso überraschender, als die Republikaner eine den Interessen ihrer Partei dienende, dem demographischen Wandel und den Erfordernissen der kapitalistischen Entwicklung Rechnung tragende Lösung bereits gefunden hatten: Man vereine Menschen unterschiedlicher Religion und familiärer Herkunft unter der allen Konservativen heiligen Dreieinigkeit Arbeit, Familie und Vaterland. So galt George W. Bush der Koran als »Teil des amerikanischen Wertesystems«.
Wie konnte es zu dem rasanten Wandel von Bushs multikonfessionellem Konservatismus zu Trumps Ethnochauvinismus kommen? Eine Gruppe von US-Sozialwissenschaftlern versucht mit dem Konzept des »activated authoritarianism« die Ursachen zu ermitteln. Sie gehen davon aus, dass die nun offen zum Ausdruck kommenden Ansichten von einer bedeutenden Minderheit immer schon gehegt wurden, diese autoritären Charaktere aber gewissermaßen Schläfer waren, bis ein Auslöser, ein »trigger«, sie aktivierte. Einmal in Gang gekommen, entwickelt die Bewegung eine Dynamik, die auch zuvor nicht in jeder Hinsicht autoritär Denkende mitreißt.
Mit diesem Konzept, vorgestellt vom US-Onlineportal Vox (»The Rise of American Authoritarianism«), erhält das Phänomen zunächst einmal einen Namen. Es hat Schwächen, der mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus immer verbundene Antifeminismus etwa findet kaum Beachtung. In der Methodik übertragbar auf andere Länder aber sind das Grundkonzept und die Suche nach den Auslösern. Sie finden sich nicht in der Ökonomie, zumindest nicht in dem schlichten Sinn, dass vor allem die Konkurrenz um Arbeitsplätze die Rassisten motiviert. Einer Umfrage von Vox und Morning Consult zufolge sehen mittlerweile 50 Prozent der US-Amerikaner die Einwanderung als »Bürde für unser Land«, doch nur 20 Prozent sorgen sich wegen negativer ökonomischer Folgen.
Es geht vor allem um Status. Weiße Arbeiter, die Trump unterstützen, ertragen niedrige Löhne und halten es für eines echten Mannes unwürdig, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Aber sie ertragen es nicht, von Afroamerikanern oder Latinos in Bildung und Einkommen überholt zu werden. Der soziale Aufstieg von Angehörigen der Minderheiten erfolgte nach den Bürgerrechtsreformen der 60er Jahre nur sehr langsam, ist aber mittlerweile gesamtgesellschaftlich spürbar und fand sein wichtigstes Symbol in der Präsidentschaft Obamas, die wohl ein wichtiger Auslöser war. Zunächst trat die Tea Party in Erscheinung, die noch vornehmlich gegen die »gefährlichen Armen«, überdurchschnittlich oft Angehörige von Minderheiten, agitierte, die angeblich zu sehr sozialstaatlich gehätschelt werden. Unter Trump erfolgte der Übergang zum offenen Rassismus.
Autoritäre Charaktere, die immer geglaubt haben, dass weiße Männer die Nation ausmachen, fürchten den sozialen Wandel, der die Diversität zur nationalen Identität macht. So geraten mehrere Gruppen ins Visier, wenn auch nicht notwendigerweise alle (der Homophobie enthält Trump sich bislang), immer aber als zu selbstbewusst wahrgenommene Frauen. Die Anhänger Trumps hassen Hillary Clinton, weil sie den Gedanken nicht ertragen können, dass nach einem Schwarzen eine Frau ins Weiße Haus einzieht.
Hinter der Parole »Merkel muss weg« sind vergleichbare Motive zu vermuten. Der erste Auslöser, der autoritäre Charaktere in Deutschland aktivierte, war die Griechenland-Krise, in der Merkel angeblich die »gefährlichen Armen« in Südeuropa zu sehr gehätschelt hat. Mit der »Flüchtlingskrise« erfolgte der Übergang zum offenen Rassismus. Der Hauptfeind dürften aber auch in Deutschland tatsächliche oder potenzielle Aufsteiger sein, die Deutsche - zu verstehen im Sinn der Rassisten - in Einkommen und Status überholen, also die Zahnärztin mit Kopftuch oder der »türkische« Geschäftsmann. Der NSU erschoss nicht Arbeitslose, sondern Gewerbetreibende.
Die Forschung über den »aktivierten Autoritarismus« steht erst am Anfang, ist aber von großer Bedeutung und dringlich, da das Phänomen zahlreiche westliche Staaten erfasst hat. Hier wird nicht, wie immer noch viele Linke glauben, »von oben« die Arbeiterklasse gespalten. Im Gegenteil, das globalisierte Kapital bedarf der Migration, während eine klassenübergreifende Koalition die Gesellschaft spalten, eine nationale Abschottung und eine ethnische Säuberung durchsetzen will. Die wirtschaftlichen Folgen wären verheerend. Vor allem deshalb ist die Anpassung vieler Konservativer so besorgniserregend. Wenn in diesem Lager die Ideologie über die Ökonomie triumphiert, ist die bürgerliche Demokratie in ernster Gefahr.
Zugeständnisse werden von autoritären Charakteren als Schwäche interpretiert und mit weitergehenden Forderungen beantwortet. Sind die »Illegalen« oder die Flüchtlinge abgeschoben worden, werden sie gegen bereits Eingebürgerte hetzen. Der Konflikt mit den Grundsätzen des Rechtsstaats ist dann - und auch bei anderen die Menschenrechte betreffenden Fragen - unvermeidlich. Wenn Afd-Anhänger Merkel eine »Volksverräterin« nennen und Trump-Anhänger bei der Erwähnung Clintons »Sperrt sie ein« rufen, muss man nicht lange rätseln, wie treu sie den Regeln der Demokratie folgen werden, wenn sie die Macht haben, sie zu brechen. Mit Kuschelpädagogik kommt man da nicht weiter, einer Antibürgerrechtsbewegung kann nur eine Bürgerrechtsbewegung entgegentreten, die den autoritären Charakteren mehr von dem aufzwingt, was sie nicht wollen.
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