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»Vena« im Kino: Gegen die Gifte
Mit »Vena« gelingt Chiara Fleischhacker ein bemerkenswertes Spielfilmdebüt voller emotionaler Wucht
Liebe kann so schön sein. In der ersten Einstellung des Films sehen wir Jenny und Bolle auf der Couch ihres Wohnzimmers kuscheln, Zärtlichkeiten austauschen und über den Namen für das Kind sinnieren, welches in Jennys Bauch heranwächst. Das ist freilich nur Fassade, nichts ist hier gut; die nervöse Unruhe, die beide ausstrahlen, und die Gier, mit der Jenny später an einer Zigarette saugt, will nicht zur anfänglichen Idylle passen. Bald wird klar, was nicht stimmt. Es sind Entzugserscheinungen, die sie plagen, und erst, als am Abend der ersehnte »Stein«, wie Crystal Meth in der Szene genannt wird, auf dem Tisch liegt, werden sie ruhiger. Beider Lebensrhythmus wird von der Sucht diktiert, was sich so gar nicht mit einer Schwangerschaft verträgt.
Zwischen Drogensucht und Strafvollzug bleibt nicht viel Raum für Selbstentfaltung und Aufbegehren.
»Vena« ist der Debütfilm der jungen Regisseurin Chiara Fleischhacker. Ein markanter Name, den man sich gleichwohl merken sollte, denn es gibt nicht viele Filmemacher hierzulande, die so gekonnt und mit emotionaler Tiefe lebensnahe Geschichten aus dem Erdgeschoss der Gesellschaft erzählen. Filme, die sich mit Empathie und dem Gespür für Authentizität den sozialen Gegebenheiten und Friktionen im eigenen Land widmen, sind in Deutschland traditionell Mangelware. Das mag damit zu tun haben, dass die meisten Regisseure, Autoren und/oder Schauspieler diese Friktionen nicht aus eigener Anschauung kennen, da sie in der Regel aus gut gepolsterten Mittelschichtmilieus stammen. So sehen die Filme dann meist auch aus; die durchaus existierenden Ausnahmen bestätigen die Regel. »Vena« ist anders, und sei es, weil Fleischhacker ihre eigenen Erfahrungen als alleinerziehende Mutter ohne finanzielle Absicherung in das Drehbuch einfließen ließ.
Über Jennys Vergangenheit erfährt der Zuschauer kaum etwas; nur dass sie bereits einen Sohn hat, der bei der Oma lebt, und offenbar mit der Justiz und dem Jugendamt aneinandergeraten ist. In Kürze muss sie eine Haftstrafe antreten und ihr Baby damit im Strafvollzug entbinden. Jennys Verhältnis zu Autoritäten ist demzufolge recht gespannt. Auch scheint die Geburt ihres ersten Sohnes eine Erfahrung von Gewalt und Fremdbestimmung gewesen zu sein, wie die Hebamme erfahren muss, die ihr vom Jugendamt zugeteilt wird, und die mit Geduld und Beharrlichkeit gegen Jennys Ablehnung und Misstrauen ankämpft. Allmählich fasst Jenny zwar Vertrauen, aber wie soll sie ein Baby versorgen, wenn sie nicht einmal Verantwortung für ihren Sohn übernehmen kann? Nicht einmal bei seiner Einschulung wird sie dabei sein, und angesichts der Traurigkeit im Blick des Jungen kann man sich ausmalen, welche emotionalen Defizite ihn durch sein Leben begleiten werden.
Soll dem Baby dasselbe Schicksal widerfahren? Jenny schafft es ja nicht einmal, sich einen Mutterpass zu besorgen, zu stark ist ihre Abneigung gegen die Körperlichkeit des Untersuchtwerdens. Die Beziehung zu Bolle (Paul Wollin), der eh meist auf Montage ist, leidet an beider Drogenabhängigkeit, und ein Entzug scheitert an der Macht der Sucht. Als sie endlich doch eine Ärztin aufsucht, stellt ihr diese eine klare Diagnose: »Das Baby ist retardiert, es kann nicht wachsen, wie es will, weil es ständig gegen die Gifte ankämpfen muss, die durch seinen Körper fließen.«
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Ein Glücksgriff gelang der Filmemacherin mit der Besetzung der Hauptfiguren. Besonders Emma Nova spielt die Jenny mit geradezu dokumentarischer Intensität, sie ist Jenny. Eine Zeitlang war der Autor dieser Zeilen überzeugt, die Schauspielerin wäre wirklich schwanger gewesen und der Film sozusagen chronologisch gedreht, so »echt« wirkt ihre Darstellung. Erst anhand der Making-of-Bilder wurde ihm klar, dass der Schwangerschaftsbauch ein Produkt der Maskenbildner war und die Geburtsszenen mit einem Double gedreht wurden.
Nach der deutlichen Ansage der Ärztin beginnt Jenny mit Hilfe von Marla, der Hebamme (Friederike Becht), aus ihrer Lethargie aufzuwachen und zu kämpfen – um sich, ihr Kind, ihre Selbstbestimmung, gegen die Drogen. Sie verlässt Bolle, um wegzukommen vom Milieu und den Versuchungen des kurzen Rausches. Spätestens hier wird »Vena« zum Porträt einer Frau, die sich weigert, ihre scheinbar vorbestimmte Rolle als Verliererin im gesellschaftlichen Gefüge zu akzeptieren. Zwischen Drogensucht und Strafvollzug bleibt allerdings nicht viel Raum für Selbstentfaltung und Aufbegehren. Jenny will alles anders und besser machen als bisher, aber wie soll das gehen, wenn sie doch gleich in den Knast muss? Fleischhacker gelingt im Folgenden ein lebensnaher Einblick in die Welt von inhaftierten schwangeren Frauen und zugleich die packende Schilderung der Inhumanität und Brutalität des Gefängnissystems.
Zwar gibt es Mutter-Kind-Plätze für Frauen im Strafvollzug, freilich viel zu wenige, und für Jenny erweist sich der Knast als Sackgasse für ihr Bemühen, ihrem zweiten Kind eine bessere Mutter zu sein. Heute ist sich die Forschung einig darüber, wie wichtig die Prägungen nicht nur der ersten Lebensjahre, sondern sogar der ersten Stunden und Tage für die emotionale Bindung eines Babys an seine Mutter und damit eine gedeihliche Entwicklung sind. Umso unverständlicher, dass es offenbar immer noch Usus ist, der inhaftierten Mutter im Wochenbett das Kind wegzunehmen und zu Pflegeeltern zu geben, wenn kein Mutter-Kind-Platz verfügbar ist. Wie soll unter diesen Umständen Resozialisierung gelingen und welche Bürde gibt man damit dem unschuldigen Kind mit auf den Lebensweg?
»Vena« besitzt das Potenzial, ein ähnlicher Erfolg bei Kritikern und Publikum zu werden wie seinerzeit das Sozialdrama »Systemsprenger« (2019) von Nora Fingscheidt. Auch dieser Film um ein neunjähriges Mädchen und dessen Leidensweg zwischen wechselnden Pflegefamilien und Anti-Aggressions-Trainings war ein Debütfilm und von ähnlicher Dringlichkeit. Sollte es eine neue Generation junger Filmemacher schaffen, die Wirklichkeitsferne des deutschen Films zu überwinden und lebensnahes Kino zu kreieren, wozu eben auch gehört, von der harschen sozialen Realität in diesem Land zu erzählen? Der Anzeichen beziehungsweise Filme gibt es einige, aber bei etwa 150 deutschen Filmen, die jedes Jahr im Kino starten, sind es doch nur Schlaglichter, die mitnichten das deutsche Filmschaffen repräsentieren. Man kann nur hoffen, dass sich Fleischhacker nicht allzu schnell von der Gleichmacherei der Filmförderung und der Fernsehredaktionen in die konfektionierten Bahnen pressen lässt.
»Vena«, Deutschland 2024. Regie und Buch: Chiara Fleischhacker. Mit: Emma Nova, Paul Wollin, Friederike Becht. 116 Min. Kinostart: 28. November.
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