Leben im Schatten der Kokapflanze

Kolumbiens Kleinbauern werden mit Repression überzogen, die versprochenen Einkommensalternativen bleiben aus

  • David Graaff
  • Lesedauer: 6 Min.

Das »Zauberstäbchen« der Kokabauern vom Putumayo-Fluss ist ein vier Meter langer Bambusstamm und bewirkt Wundersames. Mit ihm blockieren sie eine staubige Schotterpiste, über die sonst im Minutentakt mit Rohöl beladene Lkw ächzen. Kommt das »Zauberstäbchen« zum Einsatz, ist der Förderbetrieb erheblich gestört und flugs zeigen sich das Erdölunternehmen, Regierungs- und Behördenvertreter dialogbereit. Es ist ein drastisches, aber effizientes Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. Das Ausreißen ihrer Kokapflanzen durch die Polizei, Schikanen der Militärs, die Verschmutzung von Wasserquellen durch die Erdölfirma, nicht eingehaltene Zusagen zur Gesundheitsversorgung: Die Liste der Bauern ist lang.

Vor einigen Tagen kam der Zauberstab wieder einmal zum Einsatz und nun sitzen sie alle in der feucht-heißen Luft unter einem Wellblechdach und diskutieren: ein Vertreter des Innenministeriums, jemand von der Nationalen Agentur für fossile Brennstoffe, der Beauftragte der Umweltbehörde, drei Angestellte des Erdölunternehmens für soziale Fragen, der Bürgermeister, die Bauern und zu deren Unterstützung Vertreter von Menschenrechtsorganisationen. Immer dann, wenn einer der Lkw lautstark vorbeidonnert, bricht das Gespräch kurz ab. »Um geeignete Bedingungen für dieses Treffen zu garantieren, schlage ich vor, den Verkehr für die Dauer unserer Zusammenkunft zu unterbrechen«, schlägt einer der Bauern mit einem spitzbübischen Lächeln vor. »Auf gar keinen Fall!«, antwortet der Gesandte der Erdölfirma aufbrausend, dessen Bemühung um Contenance ihm den langen Tag über deutlich anzusehen ist.

Die stundenlange Diskussion ist so wie das Klima hier im Dschungel des Putumayo nahe der Grenze zu Ecuador: hitzig, zäh, schweißtreibend. Es geht um Umweltkontrollen, Einsatz mobiler Ärzteteams und die Militärpräsenz, aber auch darum, dass die Erdölfirma kaum Menschen aus den Weilern anstellt, in deren Gebiet sie operiert. Die gegenseitige Skepsis ist groß. Denn hier stehen sich nicht nur studierte Hemdenträger mit Gummistiefeln beschuhten Bauern gegenüber. Hier trifft jenes »moderne« Kolumbien, mit seinem auf Ausbeutung von Primärressourcen basierenden Wirtschaftsmodell auf die kleinbäuerliche Lebensweise, der zeitgenössische Nationalstaat neoliberaler Prägung auf die Forderung nach sozialstaatlichen Maßnahmen.

Das Misstrauen der Bauern sitzt tief. Denn jahrzehntelang hat sich bei ihnen kaum jemand blicken lassen. Angezogen vom Kokaboom, drängten die Siedler seit den 70er-Jahren aus der Andenregion hinab ins nahezu unbewohnte amazonische Tiefland. Hinter ihnen kam die Guerilla und ersetzte den Staat, stellte Regeln auf, schlichtete Streitigkeiten.

Anfang des neuen Jahrtausends kam das Militär und bekämpfte im Rahmen des »Plan Colombia« die als »Narco-Terroristen« bezeichnete FARC-Guerilla. Auf die Soldaten folgten die Erdölunternehmen. Doch auf den damit einhergehenden versprochenen Fortschritt und soziale Investitionen warten die Bauern bis heute. Statt staatlicher Unterstützung wurden sie als »Guerilleros« stigmatisiert, statt mit Schulen und Gesundheitsversorgung wurden sie mit dem Ausreißen und Besprühen jener Sträucher bedacht, mit deren Ertrag sie ihre Familien ernährten und ihre Kinder zur Schule schickten, aber aus deren Blättern auch jenes weiße Pulver gewonnen wird, das im globalen Norden geschnupft, besungen und oft kultisch verehrt wird: Kokain.

In Produktionsländern wie Kolumbien wirkt das weltweite Kokain-Geschäft mit einem Umsatz von geschätzt 80 Milliarden Dollar wie Brandbeschleuniger auf bewaffnete Konflikte, befördert Korruption und zerstört Kulturen und Ökosysteme. Am Beginn der Produktionskette stehen Leute wie Gilberto, Hugo und Javier. Auf einer schwer zugänglichen Plantage an einem Zufluss des Río Putumayo verarbeiten sie die Kokablätter zu Kokapaste.

Gilberto rupft die goldgrünen Blätter von den Sträuchern und trägt sie in ein »Labor«, ein Verschlag aus Holzstämmen und Plastikplanen, in dem es nach Benzin, Schweiß und Kokain riecht. Hier bestreut Hugo die Blätter mit Zement und zerhackt sie mit einem Handmäher. Javier gewinnt mit Benzin, Pflanzenschutzmittel und Schwefelsäure jene graue klebrige Masse, die sie bei der nächsten Gelegenheit an Händler weiterverkaufen. Das Kilo zu rund 500 Euro. »Reich werden wir damit nicht«, sagt Gilberto und seine Mitstreiter nicken. »Schau dir unsere Hütten doch an«. Er weist auf ein mit Brettern zusammengenageltes Holzhaus.

Die Kokabauern sind das ökonomisch und sozial schwächste Glied in der Produktionskette des Kokains. Die großen Gewinnmargen streichen die Händler ein, die das Endprodukt, Kokain-Chlorhydrat, weiterverkaufen. Die Repressalien aber, das Ausreißen der Sträucher durch die Anti-Drogen-Einheiten der Polizei und die hoch umstrittenen Besprühungen der Pflanzungen mit Glyphosat und die Stigmatisierung als Guerilla-Unterstützer, darunter leiden zuerst die Bauern.

Wenn die Bauern am Ende des Arbeitstages auf dem Río Putumayo nach Hause zu ihren Fincas fahren, sehen sie am rechten Ufer, dass Strommasten die Häuser mit Elektrizität versorgen. Das ist Ecuador. Die Männer im Labor sind sich einig: Das Koka ist eine Pflanze wie jede andere auch. Sie würden sie durch legale Pflanzungen ersetzen, doch sie brauchen »Garantien«, wie sie sagen. Damit sind feste Zusagen gemeint, dass die Bauern ihre Anbauprodukte auch gewinnbringend verkaufen können. Die Preise für Agrarprodukte sind schwankend und Maßnahmen wie feste Preise oder Abnahmegarantien gibt es nicht. Zudem ist der Transport in die Stadt sehr kostspielig. Der Preis für Koka-Paste hingegen ist relativ konstant und die Ware passt im Gegensatz zu einer Bananenstaude, Panela oder Reis in eine kleine Tasche. Die Händler, unter Erlaubnis und Besteuerung der örtlichen Guerilla-Einheit, holen die Ware quasi an der Haustür ab. Ohnehin: die Guerilla. Seit Jahrzehnten kontrollieren die Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) das Gebiet.

Die Kokasiedler selbst sind keine Guerilleros, doch sie haben mehr Vertrauen in die Aufständischen als in den Staat. Die Guerilla hat die Siedler über Jahrzehnte vor dem meist nur repressiven Staat beschützt und ihnen Konstanz garantiert. Kritische Worte über die »Organisation«, wie die FARC hier heißen, sind kaum zu hören.

Was wird geschehen, wenn die Guerilla sich in absehbarer Zeit demobilisiert? Darüber macht sich Jani Silva von der Kleinbauernorganisation ADISPA Gedanken. Sie sitzt an einem viel zu kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer ihres Hauses in der Kleinstadt Puerto Asis. »Das Dorf«, wie es Jani nennt, hat rund 60 000 Einwohner und seine junge Geschichte ist eng mit dem Kokaboom verbunden. Koka hat die Stadt aufgebaut und prägt sie bis heute. Luxuriöse Shopping-Malls sucht man hier vergebens, dafür wimmelt es von Einzelhandelsgeschäften für die kaufkräftige Kundschaft. Straßenbeleuchtung, ein Abwassersystem oder asphaltierte Straßen aber gibt es nur im Zentrum.

»Der Kokaanbau«, sagt Silva, »hat unsere kleinbäuerliche Identität zerstört und uns zu Konsumenten gemacht, die Grundnahrungsmittel im Supermarkt einkaufen, statt sie selbst anzubauen.« In der anstehenden Post-Konflikt-Phase sei es wichtig, so Silva, dass die Menschen selbst entscheiden könnten, wie sie in ihren Gebieten leben und wirtschaften wollen. »Wir bestimmen, was in unserem Territorium geschieht«, sagt die 53-Jährige. Wenn die Guerilla die Waffen niederlege, dann liege der zivile Kampf um die soziale und wirtschaftliche Zukunft der Region allein auf den Schultern der sozialen Organisationen, auf dem organisierten Kleinbauerntum.

Mit ihrer Organisation setzt Silva sich für die Schaffung einer sogenannten kleinbäuerlichen Schutzzone ein. Diese soll ermöglichen, dass die Menschen wieder als »campesinos« leben und dank nachhaltiger Landwirtschaft ihre Kultur und Identität wiedererlangen können. Doch der Investitionsdruck auf die an fruchtbaren Böden, Wasser und Erdöl reiche Region wird hoch sein. Und die Kontrolle über den Kokainhandel werden andere Akteure von den FARC übernehmen wollen. »Deshalb müssen wir als soziale Organisation stark sein und kontrollieren, wer unser Gebiet betritt und wer nicht, aber ohne Waffen«, sagt Silva. Das »Zauberstäbchen« wird wohl noch öfters zum Einsatz kommen.

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