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Fethullah Gülen ist an allem schuld

Ein Prediger im US-amerikanischen Exil ist für den türkischen Präsidenten Erdogan Staatsfeind Nr. 1

  • Roland Etzel
  • Lesedauer: 5 Min.

Fethullah Gülen, der einstige Prediger im türkischen Staatsdienst, ist ein Mann von 75 Jahren und tritt Journalisten gewöhnlich im Habitus eines freundlichen, älteren Herrn gegenüber. Allerdings sind seine öffentlichen Auftritte seltener geworden und seit zwei Woche ganz ausgeblieben. Seit der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan behauptet, Gülen sei Drahtzieher des stümperhaften Umsturzversuchs vom 15. Juli in der Türkei gewesen, muss sich der Prediger in acht nehmen.

Erdogan verlangt von den USA nichts weniger als die sofortige Auslieferung Gülens an die Türkei und das in einer brüskierenden Art und Weise, wie sie die USA wohl selten erlebten, zumal von einem verbündeten Staat. Als vorige Woche US-General Joseph Dunford auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik seine Truppen besuchte, standen draußen für ihn unüberhörbar Demonstranten, die in Sprechchören »Gib uns Gülen!« skandierten. Es ist nicht vorstellbar, dass sie dies ohne Erlaubnis Erdogans hätten tun können.

In der Nacht zu Donnerstag wiederholte er laut der Nachrichtenagentur Anadolu bei einem Besuch der nächtlichen »Demokratiewachen« vor dem Präsidentenpalast in Ankara seine Forderung: »Früher oder später werden die Vereinigten Staaten von Amerika eine Entscheidung treffen: Entweder die Türkei oder Fetö.« Fetö ist die türkische Abkürzung für die Gülen-Bewegung. Am Vortag hatte Erdogan selbst die Pressekonferenz in St. Petersburg genutzt, um den USA im Falle der Nichtauslieferung Gülens mit Konsequenzen zu drohen. Bislang aber wird das alles in Übersee überwiegend mit Nichtachtung behandelt und als das betrachtet, was es wohl vor allem ist: eine kraftmeierische Pose für das heimische Publikum.

Gülen, der bereits seit 1999 in den USA lebt, hat jegliche Sympathien für die Putschisten vom 15. Juli übrigens vom ersten Tage an zurückgewiesen. Im Gegensatz zu Erdogan hat sich Gülen auch stets eindeutig vom Islamischen Staat (IS) distanziert. Bereits im Oktober 2014, als die türkische Regierung den IS noch ziemlich offen über ihr Territorium operieren ließ, verurteilte Gülen in einer seiner wenigen öffentlichen Stellungnahmen den IS-Eroberungszug in Irak und Syrien aufs Schärfste. Die Dschihadisten handelten »gegen die Prinzipien des Korans und der Lebenstradition des Propheten«. Die Gräueltaten des IS liefen diametral der Aufgabe der Religion zuwider, Frieden und Verständigung zwischen den Menschen zu schaffen.

Das heißt nicht, dass es Gülen fremd wäre, nach Macht zu streben: Auch wenn er nicht auf militärische Gewalt setzt - das Reich, welches er anstrebt, ist durchaus »von dieser Welt«. Die Methoden, die er dabei anstrebt, mögen umstritten sein. Gülen wird von seinen Gegnern vorgeworfen, über einen »tiefen Staat«, also das allmähliche, aber systematische Eindringen von Gefolgsleuten in staatliche Institutionen, öffentliche Bereiche, Armee, Polizei und Justiz die Türkische Republik vereinnahmen und verändern zu wollen. Gefragt, ob er den Islam modernisieren wolle, antwortete Gülen einem Interviewer einst: »Nein, ich will die Moderne islamisieren.«

Bislang strebte Gülen dies mit Methoden an, die legitim erscheinen, auf jeden Fall gesetzeskonformer als die rüden Versuche Erdogans, die gewählten Vertreter der Opposition auszuschalten, um das angestrebte, auf ihn zugeschnittene Präsidialregime errichten zu können. Und für eine tatsächliche Verwicklung Gülens in die Revolte vom 15. Juli hat die Regierung bisher keine Beweise vorgelegt.

Gülens Waffen sind gewissermaßen Bildung und Wohlfahrt im weitesten Sinne - »Hizmet«, Dienst an Allah. »Baut Schulen statt Moscheen« war ein Slogan Gülens seit den 90er Jahren, der ihm keineswegs die Feindschaft der türkischen Muslime eintrug und auch nicht die anderer muslimisch dominierter Staaten zwischen Bangladesh und Bosnien. Auch in Deutschland sind Gülen-Einrichtungen zu finden (siehe Beitrag unten).

Im Laufe der Jahre durchliefen Zehntausende Türken Gülens Schulen und universitären Einrichtungen und landeten auf hohen Positionen - besonders im Bildungswesen in der Justiz und dem Medienbereich - genau dort, wo Erdogan derzeit das Unterste zuoberst kehrt auf der Suche nach vermeintlichen Feinden.

Dabei gehörte auch der heutige Präsident zu den von Gülen Geförderten. Wie es 2012/13 zum Bruch Erdogans mit seinem Gönner kam, ist legendenbehaftet und heute die am meisten polarisierende Frage im Land. Deren sachliche Erörterung wagt in der Türkei derzeit niemand. Bereits unterstellte Gülen-Nähe kann für einen Türken derzeit existenzvernichtende Folgen haben; vergleichbar fast mit der Inquisition der katholischen Kirche vor einem halben Jahrtausend. Und so wie damals liegt auch heute die Vermutung nahe, dass sich mit Erdogans Aufruf zur Denunziation für viele die Chance bietet - seien es Lokalpolitiker, Unternehmer oder einfach die Nachbarn -, unliebsame Personen von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Und das können sehr viele sein. Bereits jetzt sind über 60 000 Personen aus dem Öffentlichen Dienst entlassen worden, Zehntausenden weiteren ist die Suspendierung annonciert worden - allein wegen des Vorwurfs, zur Gülen-Bewegung zu gehören, was in der momentanen türkischen Sprachregelung gleichgesetzt wird mit der Beteiligung am Umsturzversuch.

Gülen führt keine Mitgliederlisten. Seriöse Schätzungen gehen von bis zu 15 Prozent der türkischen Bevölkerung aus, die zu den Gülen-Sympathisanten gehören, mit einem Übergewicht in den gebildeteren Schichten. Die Türkei hat 78 Millionen Einwohner. Da gäbe es folglich noch Hunderttausende, die Verfolgung durch Erdogans Gesinnungspolizei fürchten müssen.

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