Für eine Politik des »Dritten Pols«
Wirksame Opposition und Bildung des solidarischen Lagers: Thesen zu den strategischen Optionen der Linkspartei von Michael Brie
1. These: Gegenwärtig ist kein Richtungswechsel möglich
Die Ausgangsannahme der Gesamtheit der folgenden Thesen ist, dass zurzeit kein Richtungswechsel der Politik möglich ist, sondern höchstens ihre rechte oder linke Modifikation. Alle weiteren Folgerungen hängen davon ab, ob diese Prämisse richtig oder falsch ist.
Michael Brie, Jahrgang 1954, war von 2008 bis 2013 Leiter des Bereichs Politikanalyse bzw. Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland und des Kuratoriums Institut Solidarische Moderne. Als Mitglied in verschiedenen Programmkommissionen der PDS und der Linkspartei hat er maßgeblich die strategischen Diskussionen der gesellschaftlichen Linken mitgeprägt. Zuletzt hat er sich nicht nur mit der Theorie und Geschichte des demokratischen Sozialismus befasst, sondern mit Transformationspolitik und radikaler Realpolitik. Er hat unter anderem als Mitherausgeber »Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren?« verantwortet und gemeinsam mit Lutz Brangsch den Sammelband »Das Kommunistische. Oder: Ein Gespenst kommt nicht zur Ruhe« herausgegeben.
Unter Richtungswechsel wird ein wirkliches Umsteuern der Politik auf der Basis einer Einheit von sehr deutlicher Umverteilung und sozialökologischer Umgestaltung verstanden, das zugleich mit offensiven Aktionen für eine andere Politik auf EU-Ebene und mit Blick auf eine aktive Friedens- und Entwicklungspolitik im nahen Ausland (Mittelmeerregion, Naher und Mittlerer Osten, Osteuropa und Kaukasus) einhergeht. Dabei sind Brüche mit geltenden Regeln unvermeidlich. Sie werden auch unilateral und gegen heftigen Widerstand vorgenommen werden müssen. Die neoliberalen wie autoritären Regierungen haben es vorgemacht.
Für einen solchen Richtungswechsel, so die Annahme, sind aber die Voraussetzungen nicht gegeben: Wir haben es in Deutschland nicht mit einer kritischen Handlungssituation zu tun, in der die Herrschenden nicht mehr so weiter agieren können und Mehrheiten in der Gesellschaft ein solches Weiter-So nicht mehr zulassen wollen. Da ein Richtungswechsel der Politik auf enorme Machtblockaden und institutionelle Hindernisse stoßen muss, bedarf es einer außerordentlichen Situation und eines außerordentlichen Willens der handelnden Akteure und einer außerordentlichen Bereitschaft der Bevölkerung, die unvermeidlichen Kosten mitzutragen.
2. These: Es sind zwei Szenarien wahrscheinlich: eine Fortsetzung der jetzigen Politik mit Modifikationen (grüner und sozialer oder schwärzer und autoritärer) oder die Entstehung einer offenen Krisensituation
Die wirtschaftlich-politisch-medialen Eliten Deutschlands sind gegenwärtig in der Lage, den immer neuen Störungen ihrer Politik (siehe zum Umgang mit der Finanzkrise, zu Griechenland, zur Migration, zum Brexit) mit einem andauernden Krisenmanagement zu begegnen, das Richtungskonstanz mit immer neuen, sehr flexiblen Anpassungen zu verbinden versteht. Es wird in einem Ausnahmezustand agiert, der die Fortsetzung einer neoliberalen Politik mit den Mitteln des permanenten Staatsinterventionismus ermöglicht.
Der Kampf gegen Rechts und das Lager der Solidarität
In Europa haben rechte Parteien immer öfter Erfolg – die Linke ist entweder zu schwach, dem etwas entgegenzusetzen, oder es fehlt wie in Deutschland an Mehrheiten gegen die Rechtsentwicklung. Kann sich das ändern? Und wie?
Die große Debatte im nd-Dossier
Es kann einerseits nicht ausgeschlossen werden, dass sich diese Situation lange fortsetzt und es unter Umständen auch durch eine Reihe von günstigen Momenten zu einer relativen Entspannung kommen kann. Gegenwärtig stärkt diese Fortsetzung neoliberaler Politik in vielen Ländern eine neue Rechte, die die Fragen von Gerechtigkeit und Demokratie besetzt. Der Etablierung der AfD ist ein langer Prozess vorhergegangen, wie es unter anderem die Studien von Wilhelm Heitmeyer über »Deutsche Zustände« gezeigt haben. Die Linke wird dagegen in vielen Ländern als Teil des neoliberalen Blocks angesehen. Die gegenwärtige dominante politische Konfliktlinie in Deutschland wie auch vielen anderen Ländern der EU ist die zwischen einem neoliberalen Block und seinen rechten Herausforderern.
Zugleich ist es aber wahrscheinlich, dass die andauernde Akkumulation von sozialen und kulturellen Spannungen, ausbleibender wirtschaftlicher Erholung in der EU und starken außenpolitischen Krisen die Hegemonie des Machtblocks schwächt und es zur verstärkten Formierung nicht nur von rechten, sondern auch von linken Gegenbewegungen kommt, so dass sich der Machtblock selbst differenziert oder sogar spaltet. Dies kann in eine offene Krisensituation münden, in der erst wirkliche Weichenstellungen bezogen auf eine grundlegendere Richtungsänderung möglich werden. Die gesellschaftliche wie politische Linke muss sich auf einen solchen Bruch vorbereiten.
3. These: Unter diesen Bedingungen beginnt Veränderung mit Opposition
Die letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass die Partei DIE LINKE aus der parlamentarischen Opposition auf Bundesebene zu wichtigen Kurskorrekturen der herrschenden Politik beitragen kann (Mindestlohn, Renteneintrittsalter, Rentenhöhe, Korrekturen in der Außenpolitik usw.). Sie ist zugleich die politische Kraft im Bundestag, die gegenwärtig alleine für einen Richtungswechsel nach links steht und eine linke Gerechtigkeitspolitik zu verkörpern sucht.
Es ist nicht anzunehmen, dass die Partei DIE LINKE unter den gegebenen Bedingungen in einer Bundesregierung viel mehr erreichen würde als aus der Opposition. Die Erfahrungen der Beteiligung an Regierungen auf Landesebene unter Bedingungen, wo die Partei DIE LINKE nicht den Ministerpräsidenten stellt, weisen darauf hin, dass der Anpassungs- und Konformitätsdruck hoch ist. Die Fähigkeit, aus einer Regierungsbeteiligung heraus zugleich Repräsentant eines Richtungswechsels sein zu können, ist meines Erachtens aktuell nicht vorhanden.
Die Kräfte in der SPD und den Grünen, die von der Notwendigkeit und Möglichkeit eines Richtungswechsels überzeugt sind und bereit, dafür hart zu kämpfen, sind schwach, auch wenn es Ansätze für eine strategische Diskussion in beiden Parteien gibt. Die gesellschaftliche Unterstützung für eine schwarz-grüne Koalition ist hoch und hat bei den Grünen starke Anhänger. Die SPD ist sehr weit von einer Linksorientierung entfernt.
Auch die Partei DIE LINKE ist strategisch nicht geeint. Sie würde bei einer Beteiligung an einer Mitte-links-Regierung also die schon jetzt vorhandene politisch-parlamentarische Repräsentationslücke für einen Richtungswechsel komplett machen, damit die Rechten weiter stärken und zugleich ihren eigenständigen politischen Gebrauchswert verlieren. Die Linkspartei würde auseinanderbrechen und marginalisiert werden.
4. In der Gesellschaft gibt es an sich eine »Dritten Pol«
Es gibt gute Gründe, davon auszugehen, dass es nicht nur bedeutende Potenziale eines Lagers der Autorität gibt, das sich offen antidemokratisch und zunehmend enthemmt formiert und des Nationalismus, wie zuletzt die Studie über die »Enthemmte Mitte« wieder gezeigt hat. Sondern es existieren auch Potenziale eines solidarischen Mitte-unten-Bündnisses, eines »Dritten Pols« oder eines »Lagers der Solidarität«. Hintergrund ist die Formierung einer entsolidarisierenden »Abstiegsgesellschaft«, wie sie aktuell von Oliver Nachtwey beschrieben wurde. Wie Tom Strohschneider nach den Landtagswahlen vom März 2016 darstellte, leidet der »Dritte Pol« unter gesellschaftlicher Unsichtbarkeit und besteht quer zu den Parteien. Die Mobilisierung dieses Pols erfolgt in vielerlei Initiativen (zum Beispiel im Zusammenhang mit den Geflüchteten oder gegen die Freihandelsabkommen CETA und TTIP). Er existiert zerstreut und unverbunden – man könnte auch sagen: Er existiert nur »an sich«.
Die Partei DIE LINKE hat bisher nur für einen Teil dieses Dritten Pols eine glaubwürdige Anziehungskraft, verstärkt im links-akademischen Bereich der urbanen Räume. Sie muss diese weiter entwickeln und ausbauen. Zugleich hat sie in Kerngruppen der Lohnarbeitenden, gewerkschaftlich Organisierten, in Ostdeutschland, nicht zuletzt in den kleinen und mittleren Städten und im ländlichen Raum an Rückhalt verloren. Sie konzentriert sich zunehmend auf die Metropolen und verliert in der Fläche. Sie kann vor allem in den prekären, abgehängten Regionen, auf dem Land wie in der Stadt, selbst dort, wo sie erfolgreich ist, die Entwicklung der Rechten nicht verhindern.
5. DIE LINKE sollte eine Doppelstrategie verfolgen: Wirksame Opposition und Unterstützung der Herausbildung eines selbstbewussten und handlungsfähigen Lagers der Gerechtigkeit, Solidarität und des sozialökologischen Umbaus
Der gesellschaftliche Gebrauchswert der Partei DIE LINKE besteht meines Erachtens gegenwärtig vor allem darin, aus der Opposition heraus soziale, demokratische, ökologische und friedenspolitische Modifikationen der herrschenden Politik zu artikulieren, zu repräsentieren und nach Umständen auch zu initiieren und genau dadurch einen Beitrag zur Organisierung, Verbindung, selbstbewusst-diskursiven Formierung des Dritten Pols zu leisten und dafür einzustehen. Dies ist eine Arbeit an den Widersprüchen der herrschenden Politik und zugleich ein Wirken, diese in einer möglichen Krisensituation nach links hin aufzulösen.
Dazu sind vier Aufgaben gleichzeitig zu bearbeiten: (1) Mitwirkung an konkreten Projekten der Solidarität und des sozialökologischen und demokratischen Umbaus in Bewegungen für die Erneuerung des öffentlichen Dienstes, der Erneuerung gewerkschaftlicher Kämpfe, in Mieterinitiativen, Wasser- und Energietischen, in Projekten eines entgeltfreien ÖPNV, von Willkommensinitiativen, Projekten der Verbesserung der Kinderbetreuung und Pflege, neuer Formen von Ernährung usw. usf.; (2) Mitarbeit an einer identitätsstiftenden, die Widersprüche solidarisch verbindenden Erzählung des Warum, des Wer, des Wie, des Wann, des gegen Wen eines Dritten Pols als Diskurs der Polarisierung und der Hoffnung; (3) Engagement in Bündnissen und Bewegungen, in Bürgerinitiativen und Verwaltungen, um das Lernen des Umgangs mit der Heterogenität und Widersprüchlichkeit eines Dritten Pols zu befördern und das Verbindende konkret zu entwickeln; und (4) Arbeit an machtpolitischen Optionen von der kommunalen bis zur Ebene der Europäischen Union. Dazu gehört die Herausbildung der Fähigkeit zur politischen Mobilisierung wie der Kampf um linke Mehrheiten.
6. These: Im Bundestagswahlkampf 2017 sollte die Linkspartei ihr Wahlprogramm aus gesellschaftlichen Foren entwickeln, mit einem Programm für eine linke Regierung antreten und die Listen für die Bundestagswahl 2017 für die gesellschaftliche Linke öffnen
Das Institut Solidarische Moderne hat dazu aufgefordert, erneut einen Prozess politischer Foren einzuleiten, wie er schon vor 15 Jahren einmal begonnen wurde. DIE LINKE sollte sich aktiv daran beteiligen. Sie sollte in solchen politischen Foren und in konkreten Initiativen und Bewegungen entwickelte Positionen aufgreifen, mit ihren eigenen, in den letzten zehn Jahren entwickelten Ansätzen eines umfassenden gesellschaftlichen Richtungswechsels, des sogenannten Plan B, in Verbindung setzen und daraus ein Programm für eine dezidiert linke Regierung entwickeln, das zu einem Anziehungspunkt im Kampf um Hegemonie werden kann. Dabei ist der Dialog mit der SPD und den Grünen wichtig, aber nur insofern er glaubwürdig das Ziel eines wirklichen Richtungswechsels verfolgt.
Wenn es richtig ist, dass gegenwärtig kein Richtungswechsel der Politik möglich ist, sondern die Voraussetzungen erst entstehen und geschaffen werden müssen, dann steht nicht die Beteiligung an einer Mitte-links-Regierung auf der Tagesordnung, sondern es muss der machtpolitische strategische Horizont einer linken Regierung in der Zukunft geöffnet werden. Der »Dritte Pol« braucht politische Repräsentation. Dies bedeutet auch, die Liste für die Bundestagswahl wie schon in den 1990er und 2000er Jahren für Personen der gesellschaftlichen Linken wirksam zu öffnen.
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