Das kleine und das große Dorf

Olympia verlässt am Montag die Stadt, den Favela-Sportzentren haben die Spiele wenig gebracht

Da sage noch mal einer, aus Olympia lasse sich nicht auch für einfache Leute ein gutes Geschäft machen. Valeria, 42, Straßenhändlerin, hat jedenfalls keine Zweifel daran. Sie hat sich die letzten 16 Tage wie eine Gewinnerin gefühlt. So erzählt sie es. Denn eines Tages vor zwei Wochen hat sie eine Entdeckung gemacht, hier auf dem schmalen Fußgängerstreifen der Autobahnbrücke an der Schnellstraße Presidente João Goulart. Wegen Olympia war hier ein neuer täglicher Staupunkt entstanden, Hunderte Autos und Taxis, die kaum Schritttempo erreichten und mit ihren Abgasen sogar den Gestank des benachbarten Kanals überdeckten. Valeria überlegte nicht lange. Statt wie sonst mit ihrer Wasserkiste, den salzigen Biscoito-Keksen und den Chips in die reiche Zona Sul der Stadt zu fahren, fing sie an, ihre Snacks gleich hier anzubieten, unweit der Favela Baixa do Sapateiro, in der sie mit ihren vier Kindern wohnt.

»Es ist während Olympia ein glänzendes Geschäft«, freut sie sich. Die gleißende Sonne, die Abgase und der Lärm machen ihr nichts aus, sie läuft jetzt hier an den Autoschlangen entlang und erfreut sich an ihren neuen Kunden und ihrem Erfolg. »Ich verdiene gerade doppelt so viel wie sonst«, strahlt sie. 100 Reais Umsatz, also 28 Euro, von denen ihr nach Abzug des Warenpreises noch etwa die Hälfte übrig bleibt: 14 Euro Reingewinn, für die sie zehn Stunden an der Autobahn verbringt. Wenn es nach ihr ginge, könnten die Spiele ruhig noch weitergehen, sagt sie, auch wenn sie kaum Zeit habe, sich irgendwelche Wettkämpfe im Fernsehen anzusehen. Gerne hätte sie sich noch ein kleines finanzielles Polster angelegt, denn nach Olympia wird es schlimm kommen, glaubt Valeria. »Es kann nur schlechter werden«, klagt sie. »Rio ist pleite und unsere Regierung?« Sie winkt ab, ehe sie weiterzieht: »Die kann man vergessen.«

Brasilien und seine korrupten Politiker: Noch in der Woche nach der Abschlussfeier wird das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei fortgesetzt werden, aller Voraussicht nach wird sie ihr Amt verlieren und der bisherige Interimspräsident Michel Temer wird ohne Wahl bis 2018 als Präsident fungieren. Temer ist extrem unbeliebt, auf ein Erscheinen bei der Abschlusszeremonie gestern verzichtete er bewusst. Immer wieder wurde Temers Rücktritt auch bei den zehn Milliarden Euro teuren Olympische Spielen gefordert, das halbe Maracana-Stadion skandierte nach dem Abpfiff des Frauenfußball-Halbfinales »Fora Temer!« (Temer muss weg!) Im Olympiajahr 2016 steckt das Land in einer seiner schwersten Krisen überhaupt, die Rezession ist so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr, das Land ist nicht nur in einer politischen Schieflage, sondern vor allem auch in einer wirtschaftlichen. Ganze Bundesstaaten sind pleite. Auch in Rio de Janeiro warten Lehrer und Polizisten auf ihr schmales Gehalt.

Dass Rio pleite ist, bekommen städtische Einrichtungen wie die »Vilas Olimpicas« zuerst zu spüren. 22 solche »Olympischen Dörfer« betreibt die Stadt in den »Communidades«, wie die Favelas offiziell bezeichnet werden. Die Vilas sind Sportstätten, die von 45 000 Menschen täglich besucht werden: Turnhallen, Fußballplätze, Basketballfelder, Tenniscourts, manchmal gibt es sogar Schwimmbäder wie in der Vila Olimpica da Maré, die in Sichtweite jener Autobahnbrücke liegt, an der die Straßenverkäuferin Valeria arbeitet.

Die Vila in Maré sieht aus der Ferne wie ein moderner Sportkomplex aus, sie liegt gut sichtbar an der Schnellstraße. So ist es mit fast allen Favelaprojekten. Dass die Stadt etwas für die Ärmsten tut, soll jeder im Vorbeifahren erkennen können. Wer allerdings die Autobahn verlässt, erkennt sofort den Verfall, der hier eingesetzt hat: Am Fußballstadion und seinen im Jahr 2000 errichteten Tribünen bröckelt der Beton, der Rasen ist ein gelbliches Stoppelfeld, am Rand des Spielfelds grasen zwei Pferde. Früher finanzierte der halbstaatliche Ölkonzern Petrobras das »Olympische Dorf« der Maré-Favela, heute kündet davon nur noch die verwitternde Farbe des Schriftzuges an einer Stadiontribüne. »Wir tun wirklich alles, was wir können, um hier etwas Sinnvolles anzubieten«, sagt Aline Costa Da Cunha, »aber es ist schwer.« Die 31-Jährige arbeitet in der Verwaltung des Sportzentrums, in der insgesamt 70 Menschen angestellt sind. Gymnastik für Senioren, Sport für Behinderte, Bewegungskurse für Menschen mit Downsyndrom, auch Theatervorführungen und Ausstellungen gibt es. Gerade läuft in der Turnhalle das Ferienprogramm. Gut 150 Kinder sitzen auf dem Steinfußboden des »Ginásio« und jubeln einem Clown zu, der sie zum Hüpfen und Mitsingen animiert: Die Kinder quietschen vor Vergnügen. Unterm Hallendach hängt eine Kombination aus Hoolahoop-Reifen in Gelb, Rot, Grün, Blau und Schwarz: Die Olympischen Ringe, wobei an jedem ein Stück Papier klebt, auf der der zugehörige Kontinent vermerkt ist.

Aline wohnt nur zwei Minuten von der Vila entfernt, sie hat hier schon als 16-Jährige Basketball gespielt, sie hat im Ginásio geturnt und ist in dem 25-Meter-Schwimmbecken geschwommen, ehe sie irgendwann als Freiwillige hier zu arbeiten anfing. Ihr Vater, ein Zimmermann aus der Favela Nova Maré, hat an der Halle mitgebaut. Seit 2004 ist sie hier festangestellt. Für Aline Costa Da Cunha ist die Vila ein Ort, der Menschen stark machen kann: Kraft geben für ein besseres, gesünderes Leben: »Aber wie sollen wir etwas Vernünftiges anbieten, wenn uns die Stadt das wenige Geld auch noch kürzt?«

Während die schicken Hochhaustürme des echten Olympischen Dorfes im 30 Kilometer entfernten Olympiapark von Barra di Tijuca im September noch für die Paralympics genutzt werden, ehe sie gewinnbringend in Eigentumswohnungen umgewandelt werden, ist das Budget für die städtischen Olympiadörfer stark gekürzt worden. Die Vila von Maré ist besonders betroffen, sagt Aline: »Vielleicht liegt es daran, dass wir hier nicht so sichtbar sind.« Anders als die Favelas im Süden erhebt sich die Maré nicht an einem der Morros, Rios typischen steilen Granitbergen, sondern breitet sich am Ufer der Guanabara-Bucht aus, auf altem Überschwemmungsland. Doch auch hier mangelt es an Platz: Haus an Haus wohnen die Menschen, wenn die Familie wächst, wird einfach aufgestockt. Öffentliche Neubauten wie Schulen oder Rettungsambulanzen werden stets dort errichtet, wo Fußballplätze sind. Anderswo reicht der Platz in den Favelas nicht aus.

Weniger Geld für die Vilas Olímpicas bedeutet weniger Angestellte, Trainer, Wachpersonal. Vor allem das Wachpersonal ist wichtig: Die Vila liegt an der Grenze zwischen zwei Favelas, in denen rivalisierende Drogenbanden das Sagen haben. Ab und an kommt es vor den Toren der Vila zu Schießereien, dann nehmen die Trainer die Kinder und suchen Zuflucht in einem der wenigen Gebäude, meist in der Turnhalle. Zum Glück ist noch niemandem je etwas passiert.

Auch das Schwimmbecken der Vila ist gerade geschlossen, trotz der 33 Grad, die heute in Rio herrschen. Spiegelglatt liegt die Wasseroberfläche, nur ab und an schwappt es verlockend über den Beckenrand. Warum darf bei dieser Hitze hier niemand schwimmen gehen? »Wir hatten das Bad heute Vormittag geöffnet«, erklärt die Vila-Mitarbeiterin, »aber das Geld reicht nicht, um die ganze Zeit Rettungsschwimmer da zu haben.«

Mit den Olympischen Spielen, die irgendwo da draußen stattfinden, hatte die Vila bisher eh nichts zu tun: »Für uns hat sich Olympia noch nicht interessiert«, klagt Aline Costa da Cunha, »bis gestern!« Da sei ein Marketingmann von einem Fitnessgerätehersteller vorbeigekommen, er habe sich herumführen lassen und Fotos gemacht: »Am Ende versprach er, uns Trainingsequipment von Olympia mitzubringen, vor allem Fitnessgeräte. Das wäre natürlich cool«, sinniert Aline Costa da Cunha. Dass es aber wirklich dazu kommt, dass ein kleines Olympiadorf wie die Vila Olímpica da Maré vom großen Original profitiert, will sie aber nicht zu früh bejubeln: »Noch ist nichts sicher. Mal sehen, ob daraus etwas wird.«

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