Am Ende läuft immer ein Mensch ...

... doch eine teurere Prothese macht ihn schneller. Die meisten paralympischen Medaillen gehen an reiche Länder

  • Ronny Blaschke, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 5 Min.

Heinrich Popow beherrscht den Wechsel mit geschlossenen Augen. Er schnallt die Alltagsprothese ab und steckt seinen Schaft in die Sportprothese. Und schon stürmt er los, das hydraulische Metallknie schimmert in der Sonne, die schwarze Karbonfeder schlägt auf die Bahn. Die Prothese ist eine Maßanfertigung, entworfen am Computer, verfeinert nach Dutzenden Anpassungen. »Wenn im entscheidenden Wettkampf die Prothese nicht funktioniert, nützt das jahrelange Training gar nichts«, sagt Popow. »Bei uns zählt jedes Detail.«

Mensch und Maschine. Wenige Athleten verdeutlichen dieses Spannungsverhältnis so sehr wie der 33-jährige Leichtathlet. Bei den Paralympics in London 2012 gewann Popow Gold über 100 Meter. In Rio ist er Favorit im Weitsprung. Unter den rund 4300 Teilnehmern aus mehr als 170 Nation ist er zwar einer der bekanntesten Sportler, und doch hat er mit allen anderen eines gemein: Sie brauchen Ausdauer, Kraft, Ehrgeiz - und vor allem: gutes Material.

So führt der erste Weg Popows im Paralympischen Dorf stets in die Werkstätten. 77 Techniker aus 26 Ländern sollen in Rio dafür sorgen, dass die Sportler ohne Pannen durch ihre Wettkämpfe kommen. Schon im Mai wurden 18 Tonnen Material nach Brasilien verschifft, mit 15.000 Einzelteilen. Die Hauptwerkstatt hatte schon eine Woche vor Beginn der Spiele geöffnet, etliche Rollstühle sind während der langen Anreise in Mitleidenschaft geraten.

Verantwortlich für die Werkstätten ist seit 1988 das Unternehmen Otto Bock. Der Weltmarktführer für Prothetik hat seinen Sitz im niedersächsischen Duderstadt. Noch in den 1970er Jahren waren Prothesen schwerfällige Konstruktionen aus Holz und Schaumgummi. Der amerikanische Ingenieur Van Phillips brachte die Entwicklung entscheidend voran, schreibt die Sozialorganisation »Aktion Mensch« in einem Sonderheft über die Paralympics. Er beobachtete, wie die C-förmigen Hinterbeine von Geparden nach vorn schießen und suchte ein leichtes, aber robustes Material für eine Kopie. Schließlich wählte er hauchdünne Kohlenstofffasern, häufig genutzt in der Luftfahrt. Das Resultat: Die Laufprothese der Zukunft.

Die Form hat sich nicht wesentlich geändert, die Details dagegen sehr. Die Konstruktion ist mittlerweile auf Gewicht und Laufstil der Athleten abgestimmt. Heinrich Popow ist dafür oft in Duderstadt und diskutiert über notwendige Veränderungen. Nach einem Zuwachs an Muskelmasse muss auch die Prothese wieder angepasst werden. Das Bindeglied aus Körper und Technik besteht aus einer Silikonummantelung und kleinen Ventilen. »Modernes Material allein reicht nicht«, sagt Popow. »Man muss es auch richtig einsetzen.«

Als Botschafter von Otto Bock ist er weltweit unterwegs, um Menschen mit Amputationen Zuversicht zu vermitteln. Zuletzt traf er in Kuba Sportler, deren Prothesen falsch am Körper angebracht waren. Die Folge: blutige Verletzungen. »Als ob man Usain Bolt Schuhe gibt, die drei Nummern zu groß sind. Dann läuft der auch keinen Weltrekord.« Bei den Paralympics sind in der Regel jene Länder erfolgreich, in denen der Beruf des Orthopädietechnikers breit anerkannt ist. Popow absolviert selbst diese Ausbildung. Einige seiner Kollegen haben sie bereits abgeschlossen. Popow und Co. rennen schnell und basteln gern.

Als er neun Jahre alt war entdeckten Ärzte in Popows linker Wade einen Tumor. Noch vor der Amputation des Beines stattete ihm der Radrennfahrer Arno Becker im Krankenhaus einen Besuch ab. Popow wollte sich schon wegdrehen, da zog Becker sein Hosenbein hoch und zeigte ihm seine Prothese. Er versprach, dass Popow einen normalen Alltag führen könne, er müsse sich nur besonders anstrengen. Popow, früher begeisterter Fußballer, wurde nun Leichtathlet in Leverkusen.

Seine Sportprothese ist etwas schlichter entwickelt. Die für den Alltag verfügt hingegen über einen Mikroprozessor, der das Knie auf das Fußgelenk abstimmt und mit Hilfe von Sensoren die Sturzgefahr verringert. Dieses sogenannte C-Leg lässt sich per Knopfdruck auf einen Radfahrmodus umstellen. Solche Computertechnik ist im paralympischen Sport untersagt. Die Einzelteile müssen für alle Athleten auf dem Markt erhältlich sein.

Doch gerade an dieser Regel entzünden sich viele Debatten. 2012 wurde Popow in London mit Vorwürfen eines deutschen Teamkollegen konfrontiert: Wojtek Czyz sprach von Technodoping. Er behauptete, dass ein spezielles Kniegelenk nur Popow zur Verfügung gestanden habe. Belege hatte er nicht. In anderer Form wird seit Monaten über Markus Rehm diskutiert. Der unterschenkelamputierte Weitspringer kämpfte vergeblich um einen Start bei Olympia. Kann Rehm mit einer Prothese besser sein als nichtbehinderten Gegner? Machen sich manche Läufer durch längere Prothesen größer und schneller? Tritt an die Stelle des Trainingsalltags ein Wettrüsten?

Medien finden Gefallen an diesen Fragen, doch Belege für derlei Vorwürfe gibt es nicht. Der Ausnahmekönner Rehm ist nicht repräsentativ für die Paralympier. »Es ist verkürzt, den Sport auf das Material zu reduzieren«, sagt Thomas Abel, Behindertensportexperte an der Sporthochschule Köln. »Am Ende läuft und springt immer ein Mensch.«

Für die Prothetikhersteller ist der Leistungssport nur ein kleiner Markt: auf 150 Prothesen im Sport kommen 150.000 für den Alltag. Der Forschung geht es darum, Erkenntnisse in den Alltag zu überführen. Abel forscht auf diesem Feld seit Jahren mit seinen Studierenden. Früher wogen Rollstühle für Basketballer fast 25 Kilogramm. Dann wurden Holz und Stahl durch Titan und Grafit ersetzt. Einige Entwickler nutzten sogar eine Software aus der Formel 1. So wurden auch die Alltagsrollstühle leichter und wendiger, Menschen müssen zur Fortbewegung nun nicht mehr so viel Kraft aufbringen.

Von einer Milliarde Menschen mit einer Behinderung leben laut Weltgesundheitsorganisation 80 Prozent in Entwicklungsländern. Bei den Paralympics kommen aber fast die Hälfte aller Teilnehmer aus zehn wohlhabenden Ländern. Vor allem in Afrika oder Asien kann sich die Mehrheit der Sportler keine High-Tech-Prothesen leisten. Denn die kosten so viel wie ein Familienauto.

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