Trainieren für den kurzen Rausch

Bayer Leverkusen investierte früh in den Behindertensport und stellt den Athleten eine beispiellose Infrastruktur

  • Ronny Blaschke, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 3 Min.

Jörg Frischmann hat sich im Olympiastadion hinter den Fernsehkameras postiert, wenige Meter von der Laufbahn entfernt. Nervös klopft er mit den Fingern auf die Absperrung und starrt auf die Leinwand. Die deutsche 4x100-Meter-Staffel war gerade als Zweite ins Ziel gelaufen, doch der Stadionsprecher verkündet ihren Paralympicssieg. Die USA, eben noch Spitze, wurden wegen eines Wechselfehlers disqualifiziert.

Frischmann hat am Montagabend viele Fotos gemacht. Er wollte die Szenen festhalten, in denen sich jahrelange Arbeit verdichtet. Die einseitig amputierten Sprinter Markus Rehm und Felix Streng sowie die beidseitig amputierten Johannes Floors und David Behre liefen in 40,82 Sekunden Paralympischen und Europarekord. Frischmann, 53, fühlte sich bestätigt. Seit bald 20 Jahren leitet er die Behindertensportabteilung von Bayer Leverkusen - alle vier Läufer stammen aus diesem Verein. »Die Jungs haben bei uns optimale Bedingungen.« In den vergangenen zwei Jahren legte die Staffel jeden Dienstag eine Extraschicht ein - einmalig unter den Teams der Weltspitze, deren Mitglieder selten am selben Ort leben.

Kurz nach der Staffel gewann Irmgard Bensusan über 400 Meter die Silbermedaille, auch sie kommt aus Leverkusen. David Behre holte sich noch Bronze über 200 Meter. Bis zum Ende der Paralympics dürften weitere Vereinskollegen Medaillen gewinnen. Bayer Leverkusen stellt zehn von 38 deutschen Leichtathleten in Rio.

Frischmann kam mit Fehlbildungen an Händen und Füßen auf die Welt. Als Jugendlicher hatte er keine Lust auf Behindertensport. Er probierte viel aus, ging schwimmen, spielte Handball, wurde in den Vereinen von Nichtbehinderten akzeptiert. 1986 fehlte dann bei Behindertensportlern aus seinem Freundeskreis ein Spieler im Tischtennisteam. Frischmann sprang ein, trainierte hart und nahm schließlich an fünf Paralympics teil. Seine Bilanz bei internationalen Wettkämpfen: 25 Medaillen. Dazu baute er ein Netzwerk auf, über das in Europa nur wenige verfügen.

Das sprach sich herum. Der Chemiekonzern Bayer hatte 1950 seinen versehrten Mitarbeitern erstmals ein Sportangebot unterbreitet. Leistungssport kam in den 80er Jahren dazu, und schon früh trainierten behinderte Schwimmer, Leichtathleten und Volleyballer mit Nichtbehinderten zusammen. Frischmann, der in Köln Sport studierte, erarbeitete 1998 ein Konzept zur Professionalisierung - und setzte sich durch. Die Infrastruktur in Leverkusen ist beispiellos: kurze Wege von der Leichtathletikhalle zu Physiotherapeuten, Sportpsychologen oder Orthopädietechnikern. In der Leichtathletik beschäftigt der Verein zwei hauptamtliche Trainer, für Sitzvolleyball und Schwimmen wird jeweils eine halbe Stelle bezahlt. Dieses Maß an Hauptamtlichkeit ist im Behindertensport selten. Die begüterte Bayer AG macht’s möglich.

Doch in Leverkusen werden nicht nur Medaillen gezählt, berichtet Steffi Nerius auf der Tribüne des Olympiastadions von Rio. Nerius war eine erfolgreiche Speerwerferin, gewann Olympisches Silber 2004 und den WM-Titel 2009. Nerius ist ausgebildete Sportlehrerin und trainiert seit langem Markus Rehm. Dazu baut sie das Sportlerinternat in Leverkusen auf, der Verein pflegt darüber hinaus eine Partnerschaft mit einem Sportgymnasium. Felix Streng, einer der Gold-Staffelläufer, wurde dort 2014 »Eliteschüler des Jahres«.

Jörg Frischmann denkt oft an die Anfänge der Sportler zurück. Markus Rehm geriet unter eine Schiffsschraube, David Behre wurde von einem Zug erfasst, Heinrich Popow hatte einen Tumor in der Wade. In Leverkusen wurde ihnen ein sportlich aktives Leben mit Prothesen ermöglicht - durch ein breites Netzwerk, mit Krankenhäusern, Rehazentren und Selbsthilfegruppen. Rehm, Popow und Johannes Floors sind oder werden Orthopädietechniker. Regelmäßig gehen sie in Krankenhäuser und ermuntern selbst andere Unfallopfer.

Es dauerte nicht lange, da dachte Frischmann in Rio schon wieder an die Zukunft. Die Talentförderung sei im Behindertensport noch stark von Zufällen geprägt. Eltern erkennen oft spät, wie wichtig Sport für ihre Kinder sein kann. Der kurze Rausch der Paralympics wird Frischmann helfen.

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