Es waren nur die Milchzähne
Die gefeierte Regisseurin und Autorin Yael Ronen enttäuscht am Gorki-Theater mit ihrem neuen Stück »Denial«
»Eine Art Generalsekretärin für Weltkonflikte« hatte ein Kritiker die 39-jährige deutsch-israelische Autorin und Regisseurin Yael Ronen einmal genannt. Tatsächlich hat sie sich in ihren Stücken und Inszenierungen immer wieder an die großen weltpolitischen Auseinandersetzungen gewagt, hat die dramatischen Vorgänge in Ex-Jugoslawien ebenso ins Visier genommen wie den Nahostkonflikt oder die politisch erzeugte Krise um die Flüchtlinge.
Zunächst hat sie zu diesem Zweck vorgeformte Texte der Weltliteratur umgewandelt und in die politische Gegenwart versetzt. Sophokles’ »Antigone« spielte im Nahen Osten und die Titelheldin war eine Muslima, die der wahlkämpfende Kreon als Musterbeispiel gelungener Integration präsentierte, in »Das Kohlhaas-Prinzip« wurde aus dem fanatisch um sein Recht kämpfenden Pferdehändler Kohlhaas ein Fahrradfahrer und Fahrradhändler, der sein Recht durchsetzen will gegen einen großkotzigen BMW-Fahrer, der ihn im Straßenverkehr rücksichtslos angefahren hatte.
In den vergangenen Jahren hat sich Ronen einer anderen Aneignungsweise der Realität verschrieben, hat gemeinsam mit einem von ihr berufenen Schauspielensemble Texte als Ergebnis kollektiver Recherchen entwickelt und in Szene gesetzt. In Vorbereitung des Stücks »Common Ground« besuchte sie mit ihrem Ensemble die Stätten des Bürgerkriegs in Bosnien; Schauplätze, die in verschiedener Weise mit dem persönlichen Leben der Akteure verknüpft waren. In dem von der Zeitschrift »Theater heute« als bestes Stück 2015/16 ausgezeichnetem Text »The Situation« treffen im Rahmen eines Integrationskurses in Deutschland Israelis, Palästinenser und Syrer aufeinander, Menschen, die an verschiedenen Seiten der Front im Nahostkonflikt, der »Situation«, schmerzhaft verwickelt waren.
In ihrem neuen Stück »Denial« (zu Deutsch: Verleugnung, Verdrängung, Aufnahmeverweigerung) geht es nicht um konkrete politische Auseinandersetzungen, sondern um ein zu allen Zeiten wiederkehrendes psychologisches Phänomen, nämlich das der Verdrängung. Alle Spielarten von Verdrängung kommen ins Spiel: Verneinung von Tatsachen, Herunterspielen der unangenehmen Wahrheit, Beschönigung des Hässlichen, Behauptung des nie Stattgefundenen, Erhärtung des Vorurteils, Verklärung und Lüge - alles aus Furcht vor Konsequenzen für das eigene Leben.
Die Szenenüberschriften zeigen die Richtung der Behauptungen an: »Ich hatte eine glückliche Kindheit« oder »Wir hatten keine Geheimnisse«. Alle behaupten sie, »nichts gewusst, nichts gehört und nichts gesehen« zu haben. Eine junge Türkin spielt ihre Zurücksetzungen in der Schule wegen fehlender Deutschkenntnisse herunter und behauptet, dass der Unterricht wenigstens ein »visuelles Erlebnis« gewesen sei, ein junger Mann bagatellisiert die Tatsache, dass ihm der Vater die Zähne ausgeschlagen hat, mit der Bemerkung: »Es waren nur die Milchzähne«.
Von Szene zu Szene werden die Lügen offensichtlicher, die berichteten Gemeinheiten brutaler. Oscar aus der Dominikanischen Republik, den der Priester gewarnt hat, eine »Schwuchtel« zu werden, erklärt, dass er sich zu den Homosexuellen lediglich aus »naturwissenschaftlichem Interesse« hingezogen fühle und trainiert sich maskuline Handbewegungen an, weil man ihm gesagt hat, die Handbewegungen würden schwule Veranlagungen verraten. Seiner Schwester in der Dominikanischen Republik schenkt er am Telefon reinen Wein ein und verkündet, dass ihr gemeinsames Haus wegen ausgebliebener Ratenzahlung nun der Bank gehöre.
Eine lesbische Frau will mitsamt ihrem Sohn zu einer Hochzeit in die türkischen Berge fahren, verleugnet aber bei dieser Hochzeit vor den traditionellen Verwandten die iranische Partnerin. Bisher streng gehütete Geheimnisse werden offenbar: Der Vater der jungen Israelin war nicht ein heldenhafter James Bond im Dienste des israelischen Geheimdienstes, sondern ein Folterer, und der Hügel, auf dem zu Klassenausflügen gerastet worden war, ein Schutthaufen über einem verwüsteten palästinensischen Dorf. Gegen Ende hin presst der Sohn eines brutalen Vaters (Dimitrij Schaad) mit mühsam zurückgehaltener Wut die Wahrheit über den Familien-Pascha, der ihn geschlagen und missbraucht hat, heraus und löst sich gleichsam in Selbstekel auf. Zum Abschluss entschwinden alle Figuren wie im Trancezustand auf einen sphärischen Gefährt und das geschiedene Paar glaubt wieder an eine glückliche Zukunft.
Wie in anderen Inszenierungen von Yael Ronen fällt neben der Mehrsprachigkeit der jähe Wechsel der ästhetischen Ebenen auf. Das Bühnengeschehen springt von der kollektiven Euphorie des Anfangs in die fast tonlose Agonie des sich von seinem Vater befreienden Mannes und dann zur sphärischen Entgrenzung und Befreiung von allen irdischen Konflikten. Im Schauspielerischen gibt es allerdings oft Leerlauf. Die Szene mit dem zerstrittenen, sich in gegenseitigen Vorwürfen übertreffenden Ehepaar erschöpft sich beispielsweise im ständigem Nach-vorn-Treten und Aussagen der Kontrahenten.
Selten habe ich in Inszenierungen dieser Regisseurin eine so wenig inspirierte Szenenführung gesehen. Schauspielerischer Höhepunkt dagegen die Szene, wenn die Iranerin Orit Nahmias von ihrer Freundin einen Film drehen lässt, indem sie, Auge in Auge mit der Kamera, der in Iran gefolterten Mutter Fragen stellt, die zu stellen sie sich nie gewagt hat. Wie die Schauspielerin sich um Fassung bemüht, tapfer gegen die Tränen ankämpft, um in diesem Kampf schließlich zu unterliegen, das hat eine schmerzhafte Wahrhaftigkeit, wie sie an diesem Abend nur selten erreicht wird.
Nächste Vorstellungen : 14., 18. September; 1. Oktober
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