Die Schule in Witzenhausen

Wie im Kaiserreich junge Männer fürs Leben in Kolonien präpariert wurden. Von Ralf Hutter

  • Ralf Hutter
  • Lesedauer: 5 Min.

Wir haben es unterschätzt!« Dieses Bekenntnis steht über dem ersten Text im kürzlich erschienenen Sammelband »Raus Rein. Texte und Comics zur Geschichte der ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen«. Hendrik Dorgathen, Professor für Illustration und Comic an der Kunsthochschule Kassel, und Marion Hulverscheidt, Historikerin an der Universität Kassel, erklären in ihrem Vorwort, dass das von ihnen geleitete Projekt zur Aufarbeitung einer wichtigen Einrichtung des deutschen Kolonialismus nur bedingt erfolgreich war. Zu groß war der Umfang der zu sichtenden Dokumente und anderen Objekte, zu gering die bisherige Aufarbeitung. Aber nicht nur der nötige Arbeitsaufwand vertrieb im Laufe des 2014 begonnen Projektes einige beteiligte Studierende - der Schrecken des vor hundert Jahren auch in der Witzenhausener Einrichtung herrschenden Weltbildes und die Frage nach einem adäquaten Umgang damit taten ihr übriges.

Forschungsobjekt war die 1898 gegründete »Deutsche Kolonialschule für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe« (DKS), die ihren Betrieb 1899 in einer im Lauf der Zeit dafür hergerichteten Klosteranlage im nordhessischen Witzenhausen aufnahm. Bis zu ihrer Schließung 1944 absolvierten 2300 Menschen (fast nur Männer) aus wohlhabendem Hause die Ausbildung. Meistens nach einem praktischen Jahr lernten sie zwei Jahre lang jeweils zur Hälfte Theorie und Praxis verschiedener Wirtschaftszweige; 1902 wurde das erste tropische Gewächshaus errichtet. Die Absolventen wurden dann in Übersee Wirtschafts- und Plantagenbeamte, Pflanzer, Landwirte, Viehzüchter, Wein- und Obstbauern. Eine Diplomarbeit war erst ab 1907 zu schreiben. Der Titel »Diplom-Kolonialwirt« war aber nicht staatlich anerkannt.

Schon das deutet auf den Charakter und die Entstehungsgeschichte der als GmbH firmierenden DKS hin. Sie beruhte im Wesentlichen auf dem Bestreben vorwiegend rheinischer Kaufleute, Personal für ihre damaligen außereuropäischen Handelsstützpunkte zu finden, sagt Christian Hülsebusch, der Leiter der heutigen Nachfolgeeinrichtung, dem Deutschen Institut für tropische und subtropische Landwirtschaft (DITSL), in einem im Buch abgedruckten Interview. Missionarisches oder staatliches Interesse spielten demnach also keine oder zumindest nicht die Hauptrolle.

Doch wenn nicht religiöser, dann zumindest ideologischer missionarischer Eifer war eine der grundlegenden Legitimationen für die Ausbildung der Kolonialisten. Die sollten den jeweiligen Einheimischen »die« Zivilisation nahebringen. Dass damit Rassismus und überschwänglicher Nationalismus verbunden waren, ist bekannt. »Subtropische Länder hat unsere Volkswirtschaft und unsere nationale Ausdehnungskraft so nötig wie das tägliche Brot«, postulierte einmal der Gründungsdirektor der Kolonialschule, Ernst Fabarius. Der Theologe und evangelische Funktionär besuchte selbst aber erst 1910 eine Kolonie.

Das protestantische Element und das Achten auf Sittsamkeit in der DKS sollten nicht zuletzt Gewaltexzesse in den Kolonien verhindern. Im organisierten Protestantismus gab es durchaus vernehmliche Kritik an der Unterdrückung der Einheimischen. Von daher ist die Schule nicht nur als ein Gewaltinstrument zu betrachten. Ihre Absolventen mochten zudem durchaus auch von Arbeitseifer beseelt sein, denn viele sollten ja dann im Ausland unter schwierigen Bedingungen Betriebe aufbauen.

Dennoch muss die DKS wohl als Kristallisationspunkt und Verstärker einschlägiger fataler Denkströmungen angesehen werden. Das Fabarius-Zitat von der Volkswirtschaft und der »nationalen Ausdehnungskraft« zeigt dabei schon, wie Profitstreben und nationalistischer Wahn, also materielles Interesse und Ideologie, sich wie so oft zu einem festen Amalgam verbanden, das massenhaften Mord und brutale Ausbeutung bedeutete. 1907 erhielt das Deutsche Reich sein erstes Kolonialministerium. Da führte es schon den ersten Vernichtungskrieg des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia.

Eben dort, in »Deutsch-Südwestafrika«, dichtete ein DKS-Absolvent 1916 das Marschlied »Heia Safari«, das auch vom Afrika-Korps der Nazis gesungen wurde. Im Nationalsozialismus hatte die Schule starken Zulauf, viele Schüler waren Mitglieder in Naziorganisationen. Absolvent Richard Walther Darré wiederum leitete ab 1931 das neu gegründete Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und wurde 1933 Reichsbauernführer und Landwirtschaftsminister. Seinen Status als Absolvent erreichte er auf vielsagende Weise. Weil er ein Geheimnis eines Mitschülers gelüftet hatte, schloss ihn ein »Ehrgericht« 1920 ohne Diplom von der Schule aus. Darré erreichte aber 1930 eine Nachdiplomierung. Sein Buch »Neuadel aus Blut und Boden« wurde als »einer Diplomarbeit entsprechend« eingestuft, wie DITSL-Leiter Hülsebusch berichtet. Als Nazi-Funktionär versuchte Darré dann, die DKS auf Osteuropa auszurichten - vergeblich, obwohl das Deutsche Reich seit 1919, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, keine Kolonien mehr hatte.

Das episodische und oft auch fragmentarische Buch beleuchtet die Werdegänge einiger Absolventen und Lehrer. Daneben enthält es Reflexionen über die Herkunft verschiedener Dinge in der DKS: Totenschädel, Pflanzen, ein Xylofon. Die Absolventen hatten all das aus den Kolonien geschickt - nun stellt sich die Frage nach dem Umgang mit diesen Objekten, von denen nicht mal klar ist, inwieweit sie geraubt wurden. Einige der Buchbeiträge sind in (jeweils verschiedener) Comic-Form verfasst. Das macht die ganze Sache leichter konsumierbar und bietet die Gelegenheit, durch die Bildsprache eine zweite Ebene einzuziehen. So zeigt sich erst am Ende der kindgerecht dargestellten Lebensgeschichte des Absolventen Hanns Bagdahn, der 1976 nach seiner Rückkehr aus Angola das auf all den von Ex-Schülern eingeschickten Objekten aufbauende Völkerkundliche Museum in Witzenhausen einrichtete, dass die vielen dümmlichen Aussagen Bagdahns zum größten Teil Zitate aus dessen Autobiografie sind.

Das Witzenhausener Museum hat den Kunstprofessor Dorgathen beim ersten Besuch »schockiert«, wie er im nd-Gespräch sagt. Es sei ein kleines, vollgestopftes »Panoptikum«. »Die Kontextualisierung der Gegenstände stammt von Laien«, hält er fest. Auch im Vorwort des Buches wird betont, eine Neuausrichtung des Museums sei »dringend geboten«.

DITSL-Leiter Hülsebusch weist demgegenüber darauf hin, dass das von dem privatwirtschaftlichen Forschungsinstitut und der Stadt Witzenhausen getragene Museum einen Jahresetat von nur 17 500 Euro habe. Das reiche kaum für den Unterhalt des Gebäudes. Auch Hülsebusch ist für ein neues Konzept, das müsse aber von einem Fachmann erarbeitet werden. Und jegliche Neuausrichtung koste mehr Geld, als zur Verfügung stehe. Die Kommune befinde sich wegen ihrer Haushaltsprobleme unter der Finanzaufsicht des Landes.

Das nun erschienene Buch jedenfalls erfüllt seinen Zweck, einen niedrigschwelligen Einstieg ins Thema »Deutsche Kolonialschule« zu geben. Es behandelt darüber hinaus den deutschen Kolonialismus historisch sowie das Nachwirken seiner Bildwelten in Populärliteratur und Öffentlichkeit. Zehn bis fünfzehn Studierende aus der Geschichts- und Agrarwissenschaft, vor allem aber aus seiner Illustrationsklasse hätten an dem Buch gearbeitet, sagt Dorgathen. Er selbst hat mehrere Beiträge gezeichnet und geschrieben. Vor allem um Erinnerungspolitik geht es ihm.

In Witzenhausen gärt es weiterhin: Erst vor einigen Monaten habe es wieder einen Farbanschlag auf die Büste des Gründungsdirektors gegeben, berichtet der Comic-Professor.

Marion Hulverscheidt/Hendrik Dorgathen (Hg.): Raus Rein. Texte und Comics zur Geschichte der ehemaligen Kolonialschule Witzenhausen. Avant-Verlag. 178 S., br., 24,95 €.

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