Die eine ist zu alt, der andere zu gut
Marianne Buggenhagen und Markus Rehm sind unter Behindertensportlern umstritten, doch darüber redet niemand
Wenn Markus Rehm das Interesse des Fragestellers erfasst hat, nickt er kurz. Er antwortet nie zu lang und nie zu kurz. Ein bisschen Pro, ein bisschen Contra, diplomatisch, aber nicht platt. Er ist vorsichtig geworden.
Wenn Marianne Buggenhagen auf ihre Rolle angesprochen wird, macht sie sich kleiner als sie ist. Ein letzter großer Wettkampf, vielleicht mit einer Medaille, hoffentlich in Gold, dann war›s das, aber dicke Schlagzeilen? Das müsse nun wirklich nicht sein.
Markus Rehm und Marianne Buggenhagen sind die bekanntesten Behindertensportler Deutschlands. Sie sind die Leitfiguren unterschiedlicher Generationen. Bei den Paralympics in Rio werden sie an diesem Samstag ihren großen Tag haben. Der eine dürfte locker Gold im Weitsprung gewinnen, die andere mindestens Silber im Diskuswerfen. Rehm und Buggenhagen sind seit langem Spitze in der Branche. Beliebt und doch nicht unumstritten. Sie verkörpern Debatten, die nicht offen ausgetragen werden. Sie ziehen Neid auf sich, hinterlassen Unsicherheit. Aber warum?
Im August war in der »ZEIT« ein bemerkenswertes Dossier über Markus Rehm erschienen. Darin wird beschrieben, warum der unterschenkelamputierte Weitspringer die Leichtathletik spaltet. Der 28-Jährige kämpfte über Monate für einen Start bei Olympia, mit Interviews, mit Netzwerkarbeit, mit einer komplexen wissenschaftlichen Studie. Rehm ist schon mal 8,40 Meter weit gesprungen, damit wäre er in Rio Olympiasieger geworden. Die größte Bühne des Sports durfte er aber nicht betreten. Letztlich konnte er nicht zweifelsfrei beweisen, dass er durch seine Prothese keinen Vorteil hat. Man würde gern wissen, wie es Rehm nun geht, nach den Monaten der Zweifel und der Warterei auf die Entscheidung der Leichtathletikverbände, doch er lässt Außenstehende nicht wirklich hinter die Fassade schauen.
Es ist interessant zu beobachten, wer nun im Olympiastadion von Rio mit ihm redet und wer ihn eher meidet. Die ZEIT schrieb: »Für Heinrich Popow ist Markus Rehm ein Behinderter, der nichts mehr mit Behinderten zu tun haben will.« Popow sagt, er habe diesen Gedanken nie so hart formuliert, und doch legt der Satz die Konfliktlinie offen.
Man muss wissen, dass Markus Rehm erst durch Heinrich Popow im Jahr 2008 zur paralympischen Elite in Leverkusen kam. Popow ist als Paralympier auch hoch dekoriert, in London gewann er Gold über 100 Meter. Aber Olympia kam nie in Frage für ihn, denn anders als bei Rehm musste ihm auch das Knie amputiert werden. Popow braucht ein hydraulisches Metallgelenk. In seiner Weitsprung-Startklasse hält er den Weltrekord mit 6,77 Meter.
Solche Details gehen meist unter. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich ein Amputierter nur eine Prothese umschnallen müsse und schon sei das olympische Eingangstor geöffnet. Man kann sich nach einem Gespräch mit Rehm nicht vorstellen, dass er sich innerhalb der paralympischen Gemeinde für etwas Besseres hält. Aber er ist eben doch die Projektionsfigur für das Unbehagen vieler Kollegen. Die wollen schließlich auch umgarnt werden: für Werbespots, für Fernsehdokumentationen, für orthopädische Fachvorträge. Und auch bei nichtbehinderten Sportlern ist Rehm nicht immer beliebt. Manche sollen sogar einen Boykott in Erwägung ziehen, sollte er bei Meisterschaften gegen sie antreten dürfen. Nach Harmonie klingt das nicht. Rehm verzichtete daher darauf, seinen Olympiaplatz einzuklagen.
Die 63-Jährige Buggenhagen stammt aus einer anderen Zeit. Ihre Erfolge im Stoßen und Werfen würden eine ganze Zeitungsseite füllen, in Rio bestreitet sie ihre siebten und letzten Paralympics. 1994 wurde sie einst von der ARD vor Steffi Graf und Franziska van Almsick zur Sportlerin des Jahres gekürt. Doch gerade weil sie so mächtig strahlt im kollektiven Gedächtnis des Behindertensports, stößt sie vielen negativ auf. Denn Buggenhagen symbolisiert die schweren Anfänge in der Vergangenheit und nicht die glänzende Zukunft.
Da ist zum Beispiel ein Paralympics-Starter im Ruhestand, behängt mit vielen Medaillen, und sagt: »Es ist doch affig, mit über 60 noch Leistungssport zu machen. Was sagt das denn über die Konkurrenz und das Leistungsvermögen aus? Für die Glaubwürdigkeit unseres Sports ist das fatal.« Und es gipfelt in der Anregung: »Da sollten Sie mal einen Artikel drüber schreiben.« Das ist jedoch nicht so einfach, denn mit einer nicht glatt gebügelten Meinung möchte sich dazu niemand zitieren lassen, selbst wenn etliche Paralympier die Kritik im Hintergrund teilen.
So muss man das beschreiben, was man sehen kann, oder eben nicht. Der Deutsche Behindertensportverband hat eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit, auf allen Medienkanälen, schon vor den Spielen mit Workshops und Diskussionsforen. Marianne Buggenhagen spielte bei den Präsentationen keine Rolle. Noch vor 10 oder 15 Jahren war sie Alleinunterhalterin. Heute sieht man junge, vor Kraft strotzende Athleten: Popow und Rehm gehen voran. Und die Resonanz in den sozialen Medien ist groß.
Buggenhagen musste ihren Sport jahrelang selbst finanzieren, das Interesse von Sponsoren war überschaubar. Sie selbst möchte sich auf eine Altersdiskussion nicht einlassen, sie werde im paralympischen Dorf von allen akzeptiert. Aber: »Meine Motivation ist weg«, sagt sie. »Ich möchte mit einer guten Leistung aufhören. Damit niemand sagen kann: Warum ist die Alte nicht schon früher abgetreten.« Sie wird bald mehr Zeit mit ihrem Mann verbringen, vielleicht reisen und einen Angelschein machen. Das ständig wiederkehrende Gefühl, Jüngeren vielleicht einen Platz wegzunehmen, ist dann weg.
Markus Rehm und Marianne Buggenhagen stehen im Zentrum von interessanten Diskussionen, in denen es kein Richtig und kein Falsch gibt. Es ist schade, dass die Themen nicht transparenter verhandelt werden. Das liegt auch daran, dass es keine beständige Beobachtung gibt, selten in der Wissenschaft, noch seltener in den Medien. So gleicht die Berichterstattung in Rio einer medaillenhörigen Bewunderungskultur.
Markus Rehm wird weiter für den Sport mit Nichtbehinderten streiten. Und Marianne Buggenhagen ist als Botschafterin für Gleichberechtigung stetig aktiv. Paralympier wie sie finden es gut, wenn man die Denkmuster im Behindertensport hinterfragt. Denn das würde bedeuten, dass man sie genauso ernst nimmt wie ihre Kollegen bei Olympia.
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