Schweiz verzichtet auf Obergrenze
Nationalrat entscheidet sich für eine entschärfte Version der von Rechtspopulisten geforderten »Masseneinwanderungsinitiative«
Zürich. Die Diskussion war lang, aber das Ergebnis nach sieben Stunden eindeutig. Der Nationalrat, die grössere Kammer des Schweizer Parlaments stimmte am Mittwochabend nach sieben Stunden dem Vorschlag seiner vorberatenden Kommission mit 126 gegen 67 Stimmen zu. Faktisch blies die Mehrheit damit einen Angriff auf die Personenfreizügigkeit ab. Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP), die Autorin der sogenannten »Masseneinwanderungsinitiative«, fand sich in einer Minderheit wieder.
Der Vorschlag sieht vor, die 2014 per Volksabstimmung in die Verfassung aufgenommene Initiative in einem dreistufigen Verfahren umzusetzen. In einem ersten Schritt muss der Bundesrat sicherstellen, dass das einheimische Potential an Arbeitskräften besser auszuschöpfen. In einem zweiten Schritt kann der Bundesrat eine obligatorische Meldung freier Stellen an die Regionalen Arbeitsvermittlungen einführen, wenn die Zuwanderung ein bestimmtes Niveau erreicht. Erst in einem dritten Schritt könnte er Höchstzahlen festlegen, aber nur mit der Zustimmung der EU.
Der liberale Abgeordnete Kurt Fluri begründete am Mittwoch den Vorschlag. Die Einführung von Höchstzahlen und Kontingenten, wie vom neuen Verfassungsartikel gefordert, würde »wegen der bekannten Guillotine-Klausel zwangsläufig zur Kündigung der übrigen sechs bilateralen Abkommen führen«, so Fluri. Im Klartext: In der Wahl zwischen der wortgetreuen Umsetzung der Initiative von 2014 und der Ausstossung aus dem EU-Binnenmarkt durch Brüssel wählte die Mehrheit des Parlaments den Zugang zum Markt.
Die SVP sieht darin einen Verrat am Volkswillen. Ihr Abgeordneter Adrian Amstutz nannte den Kommissionsvorschlag in der Debatte eine »Gesetzesruine«, »ein in Hochglanz verpackter Verfassungsbruch«. Amstutz griff seine Gegner auch persönlich an. »Hier wird die direkte Demokratie beerdigt, und diejenigen, die dabei mithelfen, sind Totengräber.«
Die Wirtschaft begrüsst dagegen die Entscheidung des Nationalrats. »economiesuisse ist erfreut, dass sich der Nationalrat für eine Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative entschieden hat, die einen Inländervorrang sowie bei Bedarf EU-verträgliche Abhilfemassnahmen vorsieht«, heisst es in einer Mitteilung des grössten Dachverbandes.
Noch ist innenpolitisch die Kuh nicht vom Eis, wie man in der Schweiz sagt. Zunächst beugt sich der Ständerat als Zweitrat über die Vorlage. Stimmt er zu, dann kann das Parlament die Umsetzung am 16. Dezember beschliessen. Doch dagegen dürfte die SVP mit Sicherheit das Referendum ergreifen. Abgestimmt würde dann vermutlich im Mai.
Stimmt das Schweizer Volk zu, dann könnte es damit auch eine Blaupause für die Umsetzung des Brexit liefern. Denn Grossbritannien laboriert seit dem 23. Juni am gleichen Problem: Wie kann sich das Land den Zugang zum EU-Binnenmarkt sichern und gleichzeitig die Zuwanderung begrenzen. Die Schweizer Antwort: Statt echter Höchstzahlen würde es reichen, Einwanderer rhetorisch abzuschrecken und das heimische Arbeitskräftepotential besser auszunutzen.
Und es wirkt: Schon jetzt hat die Diskussion über die Zuwanderung gemeinsam mit der Aufwertung des Franken und der Abschwächung der Wirtschaft dazu beigetragen, die Einwanderung zu begrenzen. In den vergangenen Jahren kamen bis zu mehr als 100.000 Einwanderer netto in das Land mit seinen gerade mal 8,3 Millionen Einwohnern. Im ersten Halbjahr 2016 kamen dagegen nur noch 29.000 Einwanderer netto.
Doch damit wäre das Problem nur an der Oberfläche gelöst. Denn die eigentliche Frage für ein Nicht-Mitglied wie die Schweiz und bald womöglich Grossbritannien besteht darin, ob es das EU-Recht übernehmen muss, ohne mitreden zu können. Brüssel hat gegenüber der Schweiz immer wieder klar gemacht, dass ein Land nur dem Binnenmarkt angehören kann, wenn es auch dessen Regeln übernimmt. Bisher hat die Schweiz nur die jeweils gültigen Regeln akzeptiert, nicht aber eine automatische Übernahme künftigen Rechts. Das soll sich ändern, fordert Brüssel. Seit Jahren wird darüber verhandelt, bisher ohne Ergebnis.
Nun hofft die Schweiz auf Rückendeckung aus Grossbritannien. Brüssel werde gegen London flexibler sein als gegenüber Bern, hoffen die Schweizer Diplomaten. Was London aushandle, könne später womöglich der Schweiz zugute kommen.
Mit Interesse wurde in der Schweiz der Vorschlag der Brüsseler Denkfabrik Bruegel aufgenommen, eine neue Partnerschaft der EU mit ihren Nicht-Mitgliedern zu begründen. Diese wären am Binnenmarkt beteiligt, könnten bei dessen Regelsetzung mitreden und müssten nur eine begrenzte Zuwanderung akzeptieren. Einer der Autoren des Vorschlags ist der CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Der Reiz für die Schweiz: Sie wäre kein Einzelgänger in Europa mehr.
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