Dem Empörungsgestus entgegentreten

Ver.di-Chef Frank Bsirske über die AfD, die DGB-Rentenkampagne und den SPD-Beschluss zu CETA

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 8 Min.

Im nächsten Jahr sind Bundestagswahlen, in Berlin steht eine rot-rot-grüne Koalition vor der Tür, und die AfD sitzt in etlichen Länderparlamenten. Herr Bsirske, wohin geht die Reise?
Das Thema soziale Gerechtigkeit hatte bei allen Landtagswahlen der letzten Monate eine hohe Priorität bei den Wählerinnen und Wählern. Es wird für alle Parteien darauf ankommen, deutlich zu machen, welche Antworten sie darauf haben. Ein eigenes, soziales Profil ist die beste Antwort auf das Erstarken einer Rechtspartei wie der AfD. Fortschrittliche Kräfte müssen sich der Herausforderung stellen, dass ein Teil sozial Benachteiligter im Wahlverhalten rechts andockt bei einer AfD, die so tut, als könnte sie die Schuld für ihre Probleme Flüchtlingen in die Schuhe schieben. Dabei würde es sie auch ohne einen einzigen Flüchtling geben.

Das ist paradox, weil die AfD im Kern eine Partei der Besserverdienenden ist und ein Programm hat, das gegen die Interessen der sozial Ausgegrenzten und auch der abhängig Beschäftigten geht.
Deswegen leiten sich aus dieser Diagnose mehrere Schlussfolgerungen ab. Erstens muss ernst genommen werden, was an realen Problemen hinter dieser Wählerentwicklung liegt. Entsprechende Antworten müssen in praktische Politik umgesetzt werden und dürfen nicht bloß Ankündigungen bleiben. Da darf man nicht kleckern, sondern muss klotzen - beim Schaffen von bezahlbarem Wohnraum nicht nur in Ballungszentren, bei der Verbesserung der Situation der Bildung in Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen und in der beruflichen Bildung. Es muss etwas getan werden gegen die Prekarisierung von Arbeitsbedingungen, die Furcht vor Lohndumping oder gegen die Flucht aus Tarifverträgen. Gleichzeitig muss man dem Empörungsgestus entgegentreten, den die AfD vorführt, während sie real für Konzepte steht, die rechts sind und noch mehr gegen die Interessen von Arbeitnehmern gerichtet sind, als wir dies von der FDP kennen - zum Beispiel, wenn Frauke Petry erst für die Rente ab 70 eintritt und obendrein prüfen will, das Rentenniveau noch stärker als bisher geplant abzusenken.

Themenwechsel: Der Koalitionsvertrag von 2013 trägt die Handschrift der Gewerkschaften. Wie bewerten Sie die Arbeit der Großen Koalition, anhand dessen, was sie für die Beschäftigten getan hat?
Für uns ist die Stabilisierung des Tarifsystems von strategischer Bedeutung, wozu der gesetzliche Mindestlohn einen wichtigen Beitrag leistet. Mit der Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen [wodurch diese für alle Beschäftigten einer Branche gelten; jme] hat die Bundesregierung einen Schritt gemacht, der auf die Stärkung des Tarifsystems abzielte. Tatsache ist, dass wir keinen Anstieg der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge verzeichnen können, sondern deren Anteil liegt seit vielen Jahren bei rund einem Prozent.

Warum ist das so?
Ganz einfach: Weil zwar auf der einen Seite das Quorum abgeschafft wurde, dass 50 Prozent der Beschäftigten einer Branche Gewerkschaftsmitglied sein müssen, um einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären zu können. Aber immer noch kann in den paritätisch besetzten Tarifausschüssen ein Veto der Arbeitgeberverbände die Allgemeinverbindlichkeitserklärung verhindern. Folgerichtig wäre, das Gesetz zu verändern, so dass ein AVE-Antrag im Tarifausschuss nur mit einer Mehrheit abgelehnt werden kann und nicht wie bisher eine Mehrheit einem Antrag zustimmen muss. Die Umkehr ist zwingend notwendig, um das, was mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz ursprünglich beabsichtigt war, tatsächlich zu erreichen. Auch die Tarifautonomie bliebe gewahrt, schließlich reichen die Tarifpartner den Eintrag vorab gemeinsam ein.

Stichwort Leiharbeits- und Werkvertragsgesetz: Der Entwurf von Bundesarbeitsministerin Nahles wurde am Donnerstag das erste Mal im Bundestag beraten.
Dieser Gesetzentwurf markiert das, was in Sachen Bekämpfung der Prekarisierung mit der Union möglich gewesen ist und zeigt die Grenzen dieser Koalition deutlich auf. Zur Euphorie besteht kein Anlass.

Konkret heißt das ...
Die Themen Lohndumping und Entsicherung werden durch diesen Gesetzentwurf nicht wirklich angegangen. Leiharbeit kann ja durchaus Sinn machen, wenn es um die Abdeckung von temporären Auftragsspitzen geht. Aber wir sind dagegen, dass Leiharbeit als Instrument des Lohndumpings und systematischer Entsicherung eingesetzt wird. Deswegen fordert ver.di die gleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit vom ersten Tag an oder die Ausweitung von Mitbestimmungsrechten der Betriebsräte beim Einsatz von Werkvertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern. Es geht darum, Scheinwerkverträge besser bekämpfen zu können. Gemessen daran muss der Gesetzentwurf enttäuschen. Er enthält zum Beispiel die Regelung, dass Equal Pay erst nach neun Monaten greifen soll. Aber 50 Prozent der Leiharbeiter sind keine drei Monate in einem Betrieb eingesetzt, zwei Drittel keine sechs Monate und zwölf Prozent keine drei Tage. Für das Gros der Leiharbeiter bringt die Bestimmung also nichts. Genauso wenig wie eine Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten, bevor das Arbeitsverhältnis in ein Stammarbeitsverhältnis im Einsatzbetrieb überführt werden soll. Weil diese Regelung als Grundlage den Leiharbeiter und nicht den Arbeitsplatz hat, kann nach 18 Monaten einfach ein anderer Kollege auf den Platz gesetzt werden.

Ein insgesamt schwacher Entwurf?
Was unter dem Strich bleibt, ist das Verbot des Streikbrechereinsatzes von Leiharbeitskräften. Wir haben über viele Jahre hinweg - in Arbeitskämpfen im Einzelhandel oder etwa bei der Post AG - erlebt, dass systematisch Streikbruch durch den Einsatz von Leiharbeitskräften organisiert worden ist. Dem wird jetzt ein Riegel vorgeschoben. Das ist positiv und war schwierig genug durchzusetzen gegen den Widerstand aus dem Arbeitgeberlager und seitens der CSU. Das heißt, wir sehen einen Teilfortschritt, aber im Kern nicht die Abkehr von der Entsicherung, die mit Leiharbeit und Scheinwerkverträgen nach wie vor verbunden ist.

Die gewerkschaftliche Rentenkampagne soll bis zur Bundestagswahl 2017 laufen.
... und wenn nötig, darüber hinaus. Wir haben uns im DGB darauf verständigt, das Rentenniveau in den Mittelpunkt dieser Kampagne zu stellen und damit die gesetzliche Rente.

Was sind die Gründe dafür aus Sicht der Gewerkschaften?
Ganz einfach. Die Riester-Rente sollte die Rentenkürzungen, die mit der Fixierung auf die Beitragssatzstabilität verbunden sind, ausgleichen. Das ist im Zeichen anhaltender Niedrigzinsphase, intransparenter Riester-Produkte und hoher Verwaltungskosten deutlich gescheitert. Mal ganz abgesehen davon, dass diejenigen, die das am meisten bräuchten, sich die Beiträge zur Riester-Rente am wenigsten leisten können. Zudem haben 40 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt keine betriebliche Altersvorsorge. Kurzum: Die gesetzliche Rente bleibt das entscheidende Feld. Es muss also darum gehen, das Rentenniveau zu stabilisieren und wieder anzuheben. Im Herbst will Andrea Nahles Berechnungen zur Entwicklung des Rentenniveaus vorlegen, die weiter reichen als bis 2030. Bis zum Januar wird es im DGB eine Verständigung über die Forderung nach der Höhe des Rentenniveaus geben. Dafür müssen wir uns auch über die Höhe der Beitragssätze verständigen. Ich gehe davon aus, dass eine Erhöhung über die gesetzlich festgelegten 22 Prozent hinaus erfolgen muss. Ich denke, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereit sind, einen höheren Beitragssatz zu zahlen, wenn ihnen das die Sicherheit verschafft, im Alter nicht auf Hartz IV angewiesen zu sein.

Und das werden nicht wenige sein.
Wenn wir heute schon ein Rentenniveau von 43 Prozent hätten, müsste jemand, der 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes erhält, das wären rund 2400 Euro brutto, rund 40 Jahre lang arbeiten, um eine Rente auf Grundsicherungsniveau zu erhalten. Noch dazu sagen unsere Statistiker, dass 60 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger als 2400 Euro brutto im Monat verdienen, darunter viele Teilzeitbeschäftigte, Minijobber oder Menschen im Niedriglohnsektor; und Frauen kommen in Westdeutschland im Schnitt auf weniger als 30 Beitragsjahre. Das macht deutlich, vor welcher Herausforderung wir stehen. Wir müssen auch Verbesserungen bei den Erwerbsminderungs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten erreichen, weil heute Erwerbsminderung im Grunde sofort mit einem massiven Armutsrisiko verbunden ist. Die Bundesagentur für Arbeit muss wieder für Langzeitarbeitslose Beiträge an die Rentenversicherung zahlen. Nicht zuletzt muss der Kreis derjenigen, die in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen ist, verbreitert werden. Wir brauchen einen drastischen Kurswechsel in der Rentenpolitik.

Letztes Thema: SPD und CETA. Ein Großteil der Bevölkerung lehnt CETA und TTIP ab und muss sehen, dass SPD-Chef Gabriel sich durchgesetzt hat und die SPD zustimmt?
Diese Einschätzung teile ich so nicht ganz. Der Parteikonvent hat die Zustimmung der Sozialdemokraten im parlamentarischen Verfahren an rechtsverbindliche Voraussetzungen gebunden. Ausländische Investoren dürfen nicht privilegiert werden, die EU darf im Rahmen des CETA-Abkommens in keiner Weise vom primär-rechtlich verankerten Vorsorgeprinzip abweichen, es ist ein Sanktionsmechanismus bei Verstößen gegen Arbeit-, Sozial- und Umweltstandards zu entwickeln. Und es muss sich unmissverständlich ergeben, dass bestehende oder künftig entstehende Dienstleistungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge geschützt werden. Das sind harte Restriktionen, von denen die Zustimmung der SPD-Abgeordneten abhängig gemacht worden ist. Jetzt muss geliefert werden.

Heißt das, Sie können den »emotionalen Kampagnenmodus« verlassen, wie es ein Kollege aus einer Schwestergewerkschaft ausdrückte, und die Proteste einstellen?
Bei der Kritik an TTIP/CETA/TiSA geht es nicht um einen emotionalen Kampagnenmodus, sondern um sachlich wohl begründete Politik. Hier ist eine absolut begrüßenswerte Sensibilität in der Gesellschaft entstanden für das, was mit neoliberal ausgestalteten Freihandelsabkommen an Risiken etwa für die öffentliche Daseinsvorsorge verbunden ist. Viele Gewerkschafter haben dazu beigetragen, dass es diese Sensibilität gibt. Und das ist gut so.

Und für die Proteste gegen die Freihandelsabkommen heißt das nun abwarten, ob die Voraussetzungen erfüllt werden, oder weitermachen?
Wir haben allen Anlass dazu, in dieser Frage aufmerksam zu bleiben. Wir haben es nicht nur mit CETA zu tun, sondern mit insgesamt drei Abkommen. Neoliberale Akteure werden versuchen, das, was sie bei CETA nicht unterbringen können, beim Dienstleistungsabkommen TiSA oder bei TTIP unterzubringen. Also: Weitermachen - auch wenn das dem einen oder anderen nicht behagen mag, weil er dazu neigt, sich mit Dingen zu arrangieren, mit denen man sich besser nicht arrangieren sollte.

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