Kolumbiens reaktionäre urbane Mittelschicht
Das Nein zum Friedensabkommen bringt die Regierung Santos in Zugzwang
Adriana Arboleda kann es auch am Tag danach noch nicht fassen. »Das Schreckliche ist, dass man gedacht hatte, dieses Land hat sich verändert. Aber das Gegenteil ist der Fall«, sagt die bekannte Menschenrechtsaktivistin von der Anwaltskanzlei »Corporación Juridica Libertad« gegenüber »nd«. Für sie bedeutet das Nein der Bevölkerung zum Friedensabkommen, dass die Regierung von Präsident Santos mit der FARC-Guerilla ausgehandelt hatte, die Rückkehr der Rechten um Ex-Präsident Álvaro Uribe und ist deshalb eine herbe Enttäuschung.
Für viele Kolumbianer ist am Sonntag nicht nur der Friedensprozess mit dem Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) gescheitert, sondern auch die Hoffnung auf ein anderes Kolumbien, in dem politische Ideen und grundlegende gesellschaftliche Veränderung auf friedlichem Wege möglich sind.
Warum das Nein-Lager mit einer knappen Mehrheit von weniger als ein Prozent der Stimmen gewinnen konnte und mehr als zwei Drittel der Kolumbianer nicht einmal den Weg an die Wahlurne schafften, darüber wird nun viel diskutiert. Zahlreiche Beobachter zogen Parallelen zum überraschenden Brexit-Votum. Hüben wie drüben sei das Plebiszit rechtlich nicht notwendig gewesen und habe das Negativvotum die Regierungsverantwortlichen völlig unvorbereitet getroffen. Hinzu kam in Kolumbien, dass die Wähler nicht nur über den Friedensschluss mit den FARC, sondern auch über die Regierung des insgesamt unpopulären Präsidenten Juan Manuel Santos und dessen Politik abgestimmt haben. Besonders die neue urbane Mittelschicht hat das zuletzt schwache Wirtschaftswachstum durch den Verfall des Erdölpreises zu spüren bekommen.
Sie wird von einer unter anderem von der OECD angesichts der Haushaltskrise geforderten Steuerreform betroffen sein, die Santos und sein Finanzminister noch in diesem Jahr verabschieden wollten – wenn das Volk den Frieden abgesegnet hatte. Sie ließen sich in verblüffender Analogie zum Rechtspopulismus europäischer Prägung, von der empirisch kaum haltbaren, aber auf Ängste der Menschen aufsetzenden Propaganda der Rechten um Ex-Präsident Álvaro Uribe davon überzeugen, dass dem Land im Falle eines »Ja« das wirtschaftliche Chaos drohe.
Angesichts der Unkenntnis der rund 300 Seiten starken Vereinbarungen und mithilfe zahlreicher Freikirchen gelang es der Opposition sogar, Teilen der konservativen Kolumbianer einzureden, mit der Friedensvereinbarung drohe das Land die »Genderideologie«, wie sie angeblich von der homosexuellen Erziehungsministerin Gina Parody vertreten werde. »Das Nein hat uns daran erinnert, dass die urbane Mittelschicht reaktionär ist und sich mit dem ersten eigenen Auto zufriedenstellen lässt«, polterte der Kulturkritiker Omar Rincón.
Unterdessen versucht die Regierung zu retten, was vielleicht nicht mehr zu retten ist. Präsident Santos ernannte ein Verhandlungstrio, das mit Vertretern der Uribe-Partei »Centro Democrático« über Änderungen an den Vereinbarungen von Havanna diskutieren soll. Ziel sei es, so Santos, den Friedensprozess »zu einem glücklichen Ende zu bringen«. Die FARC unterstrichen derweil in Havanna ihren Willen zum Frieden, betonten aber, die erzielten Vereinbarungen seien rechtlich bindend. Das Ergebnis der Volksabstimmung habe auf diese keine Auswirkungen. Vertreter zahlreicher sozialer Bewegungen forderten unterdessen zur weiteren Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf. »Wir müssen die 6 Millionen Ja-Stimmen geltend machen und auf der Straße Druck machen«, sagte auch die Menschenrechtsanwältin Arboleda im Gespräch mit »nd«.
Die Regierungen Lateinamerikas unterstützten die Fortsetzung des Friedensprozesses in Kolumbien. Das Nein zum Friedensabkommen bei der Volksbefragung am Sonntag dürfe nicht als Zeichen einer Ablehnung des Friedens an sich gedeutet werden, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Außenminister von Brasilien, Mexiko, Argentinien, Chile, Uruguay und Paraguay, die am Montag in Buenos Aires veröffentlicht wurde.
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