Befleckte Empfängnis
Zum Tod des großen polnischen Filmregisseurs Andrzej Wajda
Unvergesslich das Ende von »Asche und Diamant« (1958): Maciek, Soldat der bürgerlichen Exilregierung, verreckt auf einem Müllberg – und sinkt in die Arme jenes sterbenden Kommunisten, den er eben auftragsgemäß niedergestreckt hatte. Zwei Männer, glühend polnisch, ein jeder aus entgegengesetzten Gründen: nun im sinnlosen Tod vereint. Die Stunde Null nach dem Zweiten Weltkrieg: Frieden, Besinnung, nationale Verbrüderungen – für Andrzej Wajda nur eine Illusion.
Dieser Maciek wurde gespielt vom unvergesslichen polnischen James Dean, Zbigniew Cybulski. So wie James Dean verunglückte, so blöd und bitter starb auch Cybulski – als er in Wroclaw auf einen fahrenden Zug aufspringen wollte. Ein polnischer Mythos, eine Wirkungsmacht, ein tragischer Romantiker – und Inbegriff für die Liebe Wajdas zu seinen Schauspielern.
Internationalen Ruhm hat der Regisseur durch unbeugsame nationale Würde errungen. Er erreichte und bewegte mit seinen Filmen die Welt, indem er gleichsam provinziell blieb. Mit großer Behauptungskraft war er ein Kritiker dieser Provinz, die doch die durchgängige Menschenart ist, stets und überall auf der Welt. Er hat Polen gesungen, wo es am Boden lag; und dort, wo man nach 1945 die Befreiung hymnisierte und die neue Zeit – er blieb er der wache Posten an den immerwährenden Abgründen.
Das Lebenswerk dieses 1926 geborenen Regisseurs erzählt von der Natur der Geschichte: Jede Macht entspringt einer befleckten Empfängnis. Und wenn sich diese Macht selbst verkündet, mit welch edlem Wort oder in welch hohem Ton auch immer, dann verkündet sie doch nur einen sehr zweifelhaften Sieg: Auch höchste Ideen zeugen Sklavenheere. Jener befleckten Empfängnis, aus der Herrschaft wächst, folgt die befleckende Unempfänglichkeit für das Menschenopfer. Das ist Wajdas Thema: das 20. Jahrhundert und dessen kaltes Seelen-Ingenieurwesen, dessen Bewusstseins-Tyranneien.
Seiner Treue zu diesem Thema entsprach die Schmähtreue derer, die ihn als Antisozialisten beschimpften. Als er in Filmen wie »Eine Generation«, »Kanal« und auch in »Asche und Diamant« von der bürgerlichen polnischen Résistance erzählte, die auch antisowjetischen Widerstand leistete, da drückten ihm die moskaubeflissenen Ideologen der Stempel des Nationalisten auf. Im »Gelobten Land« glitzerte das Porträt eines kapitalgierigen Juden, schon glühte das Brandzeichen des Antisemiten. Mit den zornigen parteikritischen Pamphleten »Der Mann aus Marmor« und »Der Mann aus Eisen« forderte Wajda die sozialistische Zensur heraus, bezahlte dieses Risiko mit jahrelangem Warten auf Freigabe der Filme und wurde so zu einem geistigen Wegbereiter von Solidarnoscz; in Jaruzelskis Kriegsrechtzeit verlor er folgerichtig seine Präsidentschaft über den Filmverband, drehte im Ausland – und zwar den opulenten »Danton« mit Gérard Depardieu: die Revolution als Blutbesäufnis. Er wusste, wovon er drehte.
In späten Jahren erhielt Wajda den russischen »Freundschaftsorden«. Dies gewann besonderen Glanz dadurch, dass die Ehrung just jenem Regisseur zuteil wurde, der »Das Massaker von Katyn« gedreht hatte, den Film über die Erschießung tausender polnischer Offiziere 1940 in den Wäldern bei Smolensk durch die sowjetische Geheimpolizei. »Wer das Thema vor Gorbatschows Zeit berührte«, so Wajda, »der kam ins Gefängnis. Wenn das Sowjetsystem noch existierte, müsste mein Film sich gegen dieses mörderische System wenden. So aber wurde daraus ein Film über die Vergangenheit. Ich wollte zeigen, dass Katyn von einem Verbrechersystem verursacht wurde, auf Befehl Stalins – nicht so dumm allgemein gesagt von ›den Russen‹« Auch Wajdas Vater wurde in Katyn ermordet. Ein Berufsoffizier, die Mutter: Lehrerin.
»Katyn« ist – wie zahlreiche Werke Wajdas – ein Film gegen die politische Praxis, aus der Wahrheit eine gesinnungsfeste Handelsware zu machen: Veröffentlicht wird nur, was den eigenen Zielen nützt. Geschichtlich lang ist die Spur dieser Anmaßung, und Wajda erzählte immer wieder hart und heftig das Drama des böse begabten Menschen, der die Welt kurzerhand als einen unentrinnbaren, interessegesteuerten Geschichtsprozess hernimmt, bei dem man Ursachen und Wirkungen klar und ohne jede Frage im Kopf hat (der Kopf wird leichter dabei!), aber: Die Mördereien und Machtspiele und Miespraktiken auf der Seite der vermeintlich Gerechten werden einfach geleugnet. So entstehen Klassenbewusstsein, Anpassungslist, Mitläufermentalitäten. So entsteht Klassenbewusstsein, das oft nur Mitläufermentalität ist. Aber gerade »Katyn« erzählt auch das Drama des für Lügen unbegabten Menschen. Am Beispiel des Mannes, der beim Verhör ein dargereichtes Rettungspapier wegschiebt, das ihn um den Preis einer Unterschrift und also der Bejahung von Propagandaheuchelei viel Vorteil, gar Leben bewahren würde.
Die Tragik der Kommunisten liegt für Wajda in der Wahrheit, dass sich zerstörte Moral und Ethik nicht in jenem Umfeld erneuern können, wo man mithalf, sie zu vernichten – also: Auf dem Hassboden, der zum Beispiel auch durch Katyn weiter festbetoniert worden war, konnte nicht so ohne Weiteres eine polnisch-sowjetische Freundschaft gedeihen. Schon am Anfang des Films der Zerreißpunkt: 1939, auf der Brücke über den Bug, schieben sich zwei fliehende Menschenströme ineinander: Das »Die Deutschen kommen!« der einen wirft sich gegen das »Die Russen kommen!« der anderen.
Wajda zeigt in einer einleuchtenden Metapher, wie zwei russische Soldaten eine rot-weiße polnische Fahne zerreißen – der rote Teil wird als Fahne gehisst, der weiße zum schmerzlindernden Fußlappen umfunktioniert. Doch er zeigt auch den sowjetischen Offizier, der unter Gefahr der eigenen Verhaftung die Hauptheldin Anna, Frau eines Katyn-Opfers, vor dem Abtransport durch seine Genossen versteckt. Durch alle Szenen scheint der alte Wajda zu blicken, als habe er endlich, durch langlebiges Schweigenmüssen hindurch, seinen Film gedreht. Es darf an Botho Strauß gedacht werden: »Der Autor als Kerbpfahl, in den seine Zeit ihre schrecklichen Schulden schnitt.«
Einmal wird im Film »Katyn« über die humane Idee der sowjetischen Befreier gesprochen, die sich doch total unterscheide vom Banditen-Programm der deutschen Besatzer. Da durchzieht den Film ein leises, fast flehendes Bitten für die Würde dieser Differenz. Da ist sie also wieder, die Beschwörung der neuen Zeit nach dem Krieg. Ein kurzer Dialog um Wende und Wandlung. Als könne fortan die reine Theorie die blutige Praxis wegwischen. Sie kann es nicht. Und es fällt dieser Satz: »Wer anders denkt, aber doch dasselbe tut wie früher – was ist es da für ein Unterschied, etwas anderes zu denken.« Aber stets nur beschämt, verstört, für ewig gezeichnet in die Vergangenheit schauen? Nur das Negative sehen, es sich selber ständig, wie mit einem Lupenblick, groß und größer herbeirufen? Gegen diese Neurose eines Suchenden, eines sich Quälenden fällt im Film der Satz: »Wir leben, aber du wählst die Toten, das ist doch krank.« Die Antwort: »Nein, ich wähle die Ermordeten, nicht die Mörder.«
Wajdas letzter Film porträtierte den Konstruktivisten Wladyslaw Strzeminski, einen Künstler der polnischen Zwischen- und Nachkriegszeit – Ehrung für einen Kompromisslosen, den die Geistwächter der neuen Obrigkeit zerstörten, weil er die Grundsätze des sogenannten sozialistischen Realismus nicht anerkannte. Der Titel dieses Films: »Nachbilder«. Das sind Phantombilder im Gehirn, sie bleiben, auch wenn der ursprüngliche Lichtreiz längst verebbte. Wie Kino, das Bilder, die auf die Netzhaut des Auges treffen, weitergibt an unser Gedächtnis. Wo das Verschwiegene, das Verdrängte heiß aufzischt im Feuer der Wahrheitssuche. Asche und Diamant? Manchmal ist die Fähigkeit, offen in die Asche der Zeiten zu schauen, schon Diamant genug. Nun ist Andrzej Wajda, einer der letzten großen Filmregisseure des 20. Jahrhunderts, im Alter von 90 Jahren gestorben.
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