Unbeachteter Zwölftöner
Dem russischen Komponisten Arthur Lourié zum 50. Todestag
Er war viel, ja fast alles: Russe, Jude, Neutöner, Pianist, Experimentator, Futurist, also »Zukünftler«, Autor von Versen, Libretti, Essays, Rezitator eigener und fremder Texte, revolutionsbegeisterter Kulturpolitiker, dem die querköpfigen Dichter am Herzen lagen, St. Petersburger Komponist mit stetig bewundernden Blick zu Alexander Skrjabin, zu Claude Debussy und zur Kunst Ferruccio Busonis, Schöpfer zwölftöniger Klaviermusik, bevor Arnold Schönberg diese erfand, ein Bohemien, der mit der Zeit ging und gegen dieselbe sich veränderte, Mutator vom Judentum zum Neothomismus, Exilant über Kontinente weg, lange vergessener Tonsetzer, dem das, woher er kam, was er gemacht hat und für wen, des Achtens wert war. Wer würde sich mit einer Seite Text abfinden, dieser Vielheit zu entsprechen?
Arthur Lourié ist heute vor 50 Jahren gestorben. In Princeton im Bundesstaat New Jersey. Er wurde 75 Jahre alt. Sein Tod blieb öffentlich weitgehend unbeachtet. Seine Freunde Bela Bartok und Edgar Varese waren schon vor ihm gestorben. Bartok am 26. September 1945 in New York, Varese - der einzige Komponist, der zur Beerdigung Louriés erschienen war, starb bereits rund ein Jahr vorher am 6. November 1965 ähnlich unbeachtet und ebenfalls in New York. Drei Exilanten mit je anderen Musikkonzeptionen, die sich durch den US-amerikanischen Betrieb wahrlich durchbeißen mussten. Wie kam Lourié in diese ferne, so faszinierende wie brutale Welt?
Der Komponist ist als russischer Futurist in den 1910er Jahren in St. Petersburg bekannt geworden. Er gilt neben Skrjabin, Strawinsky, Roslawetz, Protopopow und Obuchow als Erneuerer der russischen Klaviermusik. Freitonalität, gepaart mit französischem Esprit, wohnt darin, eine Satztechnik, in der die Atonalität, wie sie Schönberg wenig später skizzierte, schon darauf wartet, ins Licht zu treten. Auch mit Mikrotonaliät, der Arbeit mit Vierteltönen hat Lourié experimentiert. Zu den französischen Neutönern um Debussy und Ravel hin und von den Romantikern um Schumann und Chopin weg entwickelte er einen eigenen Klaviermusikstil. Überdies schrieb der Komponist an Dokumenten des russischen Futurismus mit, einer breiten Bewegung, die den Zusammenhang von Kunst und Leben favorisierte, worin sie sich von den technizistisch inspirierten italienischen Futuristen um Marinetti unterschied.
Revolution und Futurismus, das war für die Russen kein Widerspruch. Die meisten dieser Komponisten begrüßten die Oktoberrevolution. Voran Arthur Lourié. Als Leiter der Musikabteilung im Volkskommissariat für Aufklärung unter Lunatscharski beförderte er alles, was mit neuer, junger Kunst zu tun hatte. Er kannte die vorpreschenden jungen Geister alle und beriet sich mit ihnen: Achmatowa, Majakowski, die Brüder Burljuk, Nikolaj Punin, Mandelstam, Tatlin, Meyerhold und viele andere mehr. Zur ersten Feier des 1. Mai, - mit von einem der Punin-Brüder rot angestrichenen Dienstwagen fuhr er dorthin -, enthüllte er ein Karl-Marx-Denkmal auf dem Vorplatz des Smolny. 1923 verließ er die Stellung und exilierte nach Paris. Nähere Gründe hierfür sind nicht bekannt. Abfällige Bemerkungen über diese Zeit finden sich in den veröffentlichten Lourié-Texten nicht. Die nachrevolutionäre UdSSR ignorierte den Komponisten. 1940 vertrieb ihn die nach Juden suchende Wehrmacht aus Paris. Danach Exil in den USA. Fortan sollen Werke aus seiner Feder, Kunstlieder zumal, sanfter, ebenmäßiger komponieret sein. Lourié - er liebte die Dichtung - vertonte Dichter verschiedener Epochen, Dante darunter. Er komponierte auch Opern. In Deutschland interessiert sich keiner dafür.
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