Alle spielen Mombasa

Gedanken zum allgegenwärtigen Kolonialismus beim Rundgang durch eine neue DHM-Ausstellung

Eine Vergangenheit, die nicht vergehen will - und nicht vergessen werden darf. Das sind nicht nur die schrecklichen Jahre des deutschen Faschismus, sondern auch die so kurzen wie mörderischen des deutschen Kolonialreiches. Dessen Spuren sind allerorten hierzulande noch präsent, ob auf Straßenschildern oder in Form von Denkmälern. Man könne in Hamburg und Berlin keine 300 Meter gehen, ohne über ein Relikt oder eine Anspielung auf die Zeit, als Deutschland Kolonialmacht war, zu stolpern, meint Hans-Martin Hinz vom Fachbeirat, der das Deutsche Historische Museum (DHM) bei seiner neuen Ausstellung beriet.

Die knapp drei Dezennien währende Ära deutscher kolonialer Herrschaft ist allgegenwärtig. Nicht nur ob der aktuellen Verhandlungen um Entschädigungsleistungen an Nama und Herero, Opfer des ersten Genozids im 20. Jahrhundert, begangen durch deutsche Kolonialtruppen. Eine Abschrift des Vernichtungsbefehls, diktiert am 2. Oktober 1904 von Lothar von Trotha, der sich schon bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China anno domini 1900 unrühmlich hervortat, findet sich selbstredend in der ersten großen Kolonialismus-Ausstellung des DHM. Da liest man: »Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen ... Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr mit oder ohne Vieh erschossen.« Erst im vergangenen Jahr nannte das Auswärtige Amt dieses Verbrechen Völkermord. Der Deutsche Bundestag hat sich zu einem eindeutigen Bekenntnis noch nicht durchgerungen. Ein entsprechender Antrag der Linkspartei scheiterte an den Stimmen der Regierungsfraktionen und der Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Weshalb schon im Vorfeld der Armenien-Resolution im Frühsommer dieses Jahres der türkische Präsident Recep Erdoğan ankündigte, in seiner Großen Nationalversammlung die deutschen Verbrechen an Nama und Hereo als Völkermord zu deklarieren.

Hochaktuell ist das Thema der neuen Exposition Unter den Linden in Berlin auch hinsichtlich allgegenwärtiger koloniale Attitüden Deutschlands heute, nicht nur innerhalb der europäischen Gemeinschaft, sondern auch und gerade in Afrika. Entwicklungshilfe wird mit paternalistischem Gestus gewährt. Und die mit afrikanischen Staaten derzeit ausgehandelten Freihandelsabkommen sind nur eine Facette neokolonialer Politik. Man erinnere sich zudem der Bilder von der Afrikareise der Kanzlerin in der vergangenen Woche: Angela Merkel, wie üblich die Hände zur Raute gefaltet, neben dem äthiopischen Präsidenten stehend, erteilt im Oberlehrerinnenduktus eine Lektion, wie wichtig Demokratie sei, »vorzugsweise mit Parlament«.

Ein anderes Beispiel dieser Tage: »Mombasa«, ein strategisches Brettspiel, wurde auf der Spielmesse in Essen ausgezeichnet. Die Eigenwerbung der Firma Pegasus lautet: »Bananen, Baumwolle, Kaffee und Diamanten - die Schätze des afrikanischen Kontinents versprechen Fortschritt und Reichtum. Doch unsere Ressourcen sind begrenzt und die Konkurrenz schläft nicht ...« Die Spieler verkörpern vier Handelskompanien, die sich gegenseitig austricksen müssen bei der Aneignung des Eigentums afrikanischer Völker. Ja, geht›s noch?!

Wie wahr: Eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Was im 19. Jahrhundert als »Kampf der Rassen« propagiert wurde, heißt heute »Kampf der Kulturen« (oder Clash of Cultures). Zu Beginn der Ausstellung ist denn auch eine Figurengruppe im Glaskasten zu sehen, wie die christliche Krippe angeordnet, nur eben mit Tieren und »wilden« Menschen. Flankiert wird diese gegenständliche Artikulation sozialdarwinistischer Pseudotheorien von einem Puzzlespiel, bestehend aus allseitig mit Kartenausschnitten beklebten Würfeln, die richtig zusammengesetzt alle fünf Kontinente respektive die ganze Welt abbilden. Daneben auch eine Reichs-Colonial-Uhr. Der um 1905 in einer badischen Fabrik hergestellte Chronometer unterstreicht die imperialen Machtansprüche des deutschen Kaiserreiches mit einem Überseedampfer (»Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser«) und einem Ziffernblatt, das die Ortszeiten in den Kolonien anzeigt, sowie dem vollmundigen Spruch: »Kein Sonnen-Untergang in unserem Reich«. Was Konsens nicht nur unter den Alldeutschen war. Der seinerzeit vielzitierten Maxime »Weltmacht oder Untergang« neigten gar liberale Geister wie Max Weber zu. Der Soziologe war der festen Überzeugung, dass die verspätete deutsche Nation ihre staatliche Konstituierung lieber unterlassen hätte, wenn diese »nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte«.

Die koloniale Weltbühne betrat Deutschland (abgesehen von dem brandenburgisch-preußischen Intermezzo Groß Friedrichsburg 1683 bis 1717) mit der Berliner Afrika-Konferenz, auf der die europäischen Großmächte sich den schwarzen Kontinent untereinander aufteilten, auch wenn noch keine konkreten Grenzziehungen fixiert wurden. Die Ausstellung präsentiert deren Schlussakte vom 26. Februar 1885 und einen zeitgenössischen Stich. Und auch bereits gleich eingangs wird der ungleiche Kampf deutlich: Speere gegen Maschinengewehre. Kolonialismus bedeutet gewaltsame Fremdherrschaft und allumfassende Entrechtung. Jeder Kolonisierte musste ab dem 7. Lebensjahr eine Blechmarke tragen, auf der sein Bezirk vermerkt war, den er ohne Erlaubnis seiner »Herren« nicht verlassen durfte

Den Weg zur kolonialen Unterwerfung ebneten in Afrika wie im pazifischen Raum vielfach Händler, Forschungsreisende und Missionare, die schon die ersten - was für ein euphemistisches Wort! - »Schutzverträge« aushandelten, auf die dann die Kolonialmächte ihre Herrschaftsansprüche stützten. Gewiss, sie brachten auch Fortschritt. So etablierte sich durch die Vermessung der Welt die Geografie als eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin. Reiseschriftsteller erweiterten den geistigen Horizont der Europäer. Und zur Beförderung des Welthandels (nicht minder aber aus militärstrategischen Gründen) durchzogen alsbald den afrikanischen Kontinent Straßen und Schienen.

Scheinbar mit lauteren Absichten Expeditionen unternehmende Wissenschaftler riefen indes viel Unheil hervor. In der DHM-Ausstellung steht der Pharmariese Bayer am Pranger. Robert Koch und Paul Ehrlich führten Experimente durch, die unter Afrikanern massenhaft Erblindungen nach sich zogen. Die epidemische Verbreitung der Schlafkrankheit dort war Folge einer die angestammte Bevölkerung zu »Untermenschen« abstempelnden Ideologie. Dagegen die (aus den Kolonien gewonnene) Reinheit und Frische verheißende Seife, gepriesen als zivilisatorische Errungenschaft der »Weißen«.

Besonders beschämend und bedrückend sind die anthropologischen »Objekte« (Schädel, Gliederknochen etc.), die noch zahlreich im Fundus deutscher Museen und Universitäten lagern. Solche auszustellen, schlossen die Kuratoren Heike Hartmann und Sebastian Gottschalk nicht nur aus Pietätsgründen aus, wie sie dem »nd« mitteilten. Lediglich Gipsformen erinnern an die Praxis, vom lebenden Menschen Gesichtsmasken abzunehmen. Berührend und unter die Haut gehend ist das in der Schau zu hörende, selbst komponierte und selbst gedichtete Lied des 37-jährigen Sadak Ber-resid aus Tunesien, aufgenommen auf einer Schellackplatte im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf. Er beklagt seine Rekrutierung, Kriegsverwundung sowie nunmehrige Haft: »Nun sitz ich verlassen hier ...«

Infolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurden Deutschland mit dem Versailler Vertrag die Kolonien aberkannt. Ein halbes Jahr zuvor forderte der Sozialdemokrat Friedrich Ebert: »Wir beanspruchen die uns entrissenen Gebiete und Kolonien genauso zurück wie wir die unsererseits besetzten Gebiete geräumt haben.« Koloniale Träume blieben wach in Weimarer Republik wie auch im »Dritten Reich«, obwohl Hitler selbst die Eroberung von »Lebensraum im Osten« wichtiger war.

Natürlich fehlt in der Ausstellung nicht der sich durch besondere Grausamkeit berühmt-berüchtigte Carl Peters, auch nicht Paul von Lettow-Vorbeck, der erst nach dem Waffenstillstand in Europa die Waffen in Afrika niederlegte und dessen Kolonialismus und Krieg verherrlichendes Jugendbuch »Heia Safari!« Ralph Giordano 1966 mit einer zweiteiligen filmischen Replik konterte. Im gleichen Jahr drehten Heynowski & Scheunemann ihren Streifen über Kongo-Müller: »Der lachende Mann« (übrigens derzeit auf dem Spielplan des Berliner Zeughauskinos).

Das afrikanische Jahr 1960 ist herausgehoben. Diskutiert wird die unterschiedliche Haltung der Bundesrepublik und der DDR zu den nationalen Befreiungsbewegungen und zur Dekolonisation, vorgestellt die in den 1980er Jahren entstehende Neue Schwarze Bewegung in der BRD. Der ostdeutsche Staat knüpfte an Traditionen der Solidarität wie etwa August Bebels kritische Reichstagsreden vor den Hottentottenwahlen 1907 oder Willi Münzenbergs Liga gegen Kolonialismus, für die hier ein Mitgliedsausweis aus dem Magazin des DHM-Vorgängers, des DDR-Museums für Deutsche Geschichte ausliegt. Zu sehen ist ein Entwurf für das schon lange von der afrikanischen Diaspora in Berlin geforderte Denkmal, eine 2012 aus Flaschen gestaltete Skulptur des Briten Satch Hoyt. Eindrucksvoll am Ende des Rundgangs die am Boden liegenden monumentalen, von Sockeln gestoßenen Kolonialfiguren.

Kurzum, ein Besuch lohnt sich. Als merkwürdig anzumerken bleibt, dass zur Eröffnung am vergangenen Donnerstag die gerade in der deutschen Hauptstadt weilenden autorisierten Vertreter der Opferverbände der Nama und Herero nicht geladen waren.

»Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart«. Bis 14. Mai 2017, Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin.

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