Politik im Fiebertraum

Die Debatte um Post-Truth-Politics und die neuen Rechten

  • Lukas Franke
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Behauptung, dass Politik und Wahrheit wenig Berührungspunkte haben, dürfte nicht nur an den Stammtischen weithin auf Zustimmung treffen. Politik gilt vielen als schmutziges Geschäft, und Politiker gelten als Lügner. Die Polit-Show lebte schon immer von kalkulierter Erregung. Knalleffekte und künstlicher Donner gehören zum politischen Alltag wie das Klappern zum Handwerk.

Die aktuelle Debatte um »Post-Truth-Politics«, die sich vor allem am Wahlkampf Donald Trumps und an der Kampagne der »Brexiteers« in Großbritannien festmacht, ist vor diesem Hintergrund nicht viel mehr als eine weitere Sau, die durchs hysterisierte Mediendorf getrieben wird. Denn natürlich sind Lügen in der Politik alles andere als neu: Schon Macchiavelli galt die Lüge als legitimes, gar notwendiges Mittel erfolgreicher Herrschaft, bei dessen Einsatz der Fürst jedoch den Anschein von Wahrhaftigkeit zumindest nach außen soweit wie möglich wahren solle, um das Vertrauen des Volkes nicht zu verlieren. Diktaturen sind da weniger zimperlich, dort wird die Verbreitung unliebsamer Tatsachen im Zweifel gewaltsam unterdrückt, während die Machthaber Scheinlegitimität aus Lügenerzählungen wie etwa der Gefahr durch das »Weltjudentum« beziehen.

In modernen Demokratien arbeitet eine ganze Industrie aus Public-Affairs-Agenturen und Spin Doctors an komplexen Strategien und Framings, um etwa den Klimawandel zu leugnen oder den Beinahe-Zusammenbruch des überhitzten globalen Finanzsystems zur Staatsschuldenkrise umzudeuten. Schließlich will, Elias Canetti lässt grüßen, die Masse ohnehin nicht mit komplizierten Sachlagen belästigt werden und nimmt den Herrschenden ihre Geschichten immer wieder gerne ab - es sei denn, Verschwörungstheorien und sonstiger Unsinn bieten noch einfachere Erzählungen an. Die politische Arena scheint mithin ein Eldorado für windige Gestalten und Lügner und ein eher unwirtliches Feld für Wahrheitssucher zu sein, und das nicht erst seit gestern.

Und doch scheint es einen qualitativen Unterschied zu geben zwischen dem bekannten Einsatz gezielter Fehlinformationen und Lügen und dem, was gegenwärtig als Zeitalter des »Postfaktischen« diskutiert wird. Denn die Post-Truth-Politiker betrachten die Lüge keineswegs als ein Instrument, dessen Einsatz es, wie noch bei Macchiavelli, zu verschleiern gelte. Die Lüge ist ihnen auch keine ultima ratio, die, wie von Hannah Arendt beschrieben, eine der letzten Maßnahmen auf dem Weg zum Krieg ist. Post-Truth-Politics gründen sich vielmehr auf falschen Behauptungen, Realität gilt ihnen als kontingent und wird nach Bedarf zurechtgebogen.

Wenn etwa die Brexiteers in Großbritannien ungeachtet aller Tatsachen behaupten, Monat für Monat würden 340 Millionen Pfund für das marode britische Gesundheitssystem frei, würde Großbritannien nur endlich die EU verlassen, oder wenn Donald Trump frei erfundene Zahlen in Sachen Migration, Arbeitslosigkeit oder Kriminalität nennt, deren offensichtlicher und einziger Zweck darin besteht, latent vorhandene Ängste weiter zu befeuern, werden letztlich die gleichen Instrumente eingesetzt, die auch professionelle Spin Doctors einsetzen, wenn sie, wie eingangs beschrieben, eine weltweite Finanzkrise zu einer Krise der Staatsschulden umdeuten, die natürlich auf linke Träumereien von Umverteilung und ähnliches zurückzuführen sei. An die Stelle des politischen Wettstreits treten professionell inszenierte, aber hysterisch vorgetragene Phantasmen und kalkuliert eingesetzte Ressentiments, stets geht es um Framings, um geschlossene Erzählungen, die von widersprechenden Fakten und Evidenzen nicht zu beeindrucken sind.

In Deutschland liegen die Dinge derzeit noch anders, hierzulande wird dieser postfaktische Resonanzraum überwiegend von unten gefüllt: Post-Truth-Bullshit wie »Umvolkung« und »Überfremdung« und Unwörter wie »Volksverräter« oder »Lügenpresse« wurden nicht von hochbezahlten Spin Doctors, sondern vom Mob der »besorgten Bürger« auf die Straßen Dresdens getragen, von wo aus sie ihren unheilvollen Weg etwa bis in die Talkshow von Anne Will antraten, wo der Begriff »Überfremdung« schon mal unhinterfragt von der Moderatorin verwendet wird.

Letztlich muss die gesamte Debatte um Geflüchtete als Post-Truth-Politics verstanden werden, konnte angesichts der Dominanz des Themas in den letzten Monaten zeitweise doch der Eindruck entstehen, es seien nicht rund eine Million, sondern mindestens zehn Mal so viele Menschen nach Deutschland geflohen. Dass die »Asylkritiker« immer gerade dort am lautesten sind, wo es so gut wie keine Migration gibt, ist eines jener beliebten Beispiele, an dem deutlich wird, wie entkoppelt die »Postfaktischen« von den Tatsachen sind - und wie wenig sie sich von Fakten beeindrucken lassen.

Wie sehr die politische Kultur durch die postfaktischen Schreihälse in Mitleidenschaft gezogen wird, das lässt sich in zahlreichen Nachbarländern beobachten. Während die österreichische FPÖ noch daran arbeitet, das gesamte System der bürgerlichen Demokratie etwa durch den offensichtlich absurden Vorwurf der Wahlfälschung in Verruf zu bringen, ist der ungarische Möchtegern-Diktator Viktor Orbán schon deutlich weiter, wenn er eine Hetzkampagne über Migranten initiiert, die nicht nur auf frei erfundenen Behauptungen über die Schutzsuchenden beruht, sondern auch keinerlei politische Konsequenzen hat, weder in Budapest noch in Brüssel - außer eben einer weiteren Vergiftung des politischen Klimas in Ungarn und Europa.

Doch es ist nicht nur die Vergiftung des Klimas, die dem Hype-Thema Post-Truth-Politics Relevanz verleiht. In der Entkopplung des politischen Diskurses von einem Tatsachenfundament, über das ein minimaler gesellschaftlicher Konsens herrscht, offenbart sich auch eine weitere Entpolitisierung der Politik, die ihre Macht an eine global deregulierte Ökonomie abgetreten hat. Das ist nicht nur gefährlich, weil die Post-Truth-Scheinthemen von den eigentlichen Brandherden des internationalen Geschehens ablenken, es bedeutet auch eine Hysterisierung und Enthemmung des politischen Raums, die durchaus mit jener verglichen werden kann, die etwa von Victor Klemperer hinsichtlich der Sprache der Nationalsozialisten beschrieben wurde.

Tatsächlich scheinen fortgesetzter Tabubruch und gezielte sprachliche Enthemmung Strategie von Pegida und AfD oder von großen Teilen der US-Republikaner zu sein - und es wäre naiv anzunehmen, dass sie ihren sprachlichen Gewaltakten keine physische Gewalt folgen lassen, wenn sich ihnen die Möglichkeit bietet. Solange keine progressive politische Kraft in der Lage ist, nicht nur den Unmut vieler Menschen zu bündeln, sondern auch die Lügen der »Postfaktischen« zu enttarnen und ihnen eine kohärente Alternative entgegenzusetzen, solange dürften die Trumps, Orbáns und Petrys die politische Bühne weiter zu einem reaktionären Politzirkus umgestalten. Noch wäre Zeit, sie aufzuhalten.

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