Vermessung der Lebensqualität
Bundesregierung legt den Bericht »Gut leben in Deutschland« vor - wie daraus politische Korrekturen abgeleitet werden könnten, ist offen
»Gut leben in Deutschland« - knapp 300 Seiten umfasst der Bericht, den die Bundesregierung nach mehrjähriger Vorarbeit nun präsentiert. Er ist der erste seiner Art, und vorausgegangen sind ihm Gespräche in einem »Bürgerdialog«, an dem sich rund 15 600 Menschen beteiligten, die der Einladung der Bundesregierung folgten und Auskunft über ihre Vorstellungen von einem guten Leben gaben - online oder in Versammlungen.
Wie kommt die Hasskriminalität in einen Bericht über gutes Leben, möchte man fragen. Im Jahr 2015 wurden IHM zufolge mehr als 10 300 Fälle von Hasskriminalität registriert, also Straftaten, die sich etwa gegen politische Einstellungen, Nationalitäten, Herkunft oder Religionen richteten - 77 Prozent mehr als 2014. Zudem wird damit ein Negativrekord seit Beginn der Statistik im Jahr 2001 verzeichnet. Rassistische und ausländerfeindliche Straftaten legten im Jahr 2015 um 116 Prozent zu. Die Hasskriminalität im Internet stieg um 176 Prozent; mehr als 3000 Hass-Postings in sozialen Netzwerken wurden registriert. Und dies ist nur die offiziell wahrgenommene Spitze des Eisbergs.
Die Aufreihung erklärt sich mit der Idee, die dem Bericht zugrunde liegt. Hasskriminalität ist durchaus geeignet, die Lebensqualität in Deutschland zu beeinträchtigen, wenn nicht gar, die Demokratie in ihrem jetzigen Bestand zu gefährden. 2013 hatten eine Ethikkommission und viele weitere Beteiligte aus Wissenschaft und Politik sich geeinigt, auf welche neue Weise die Lebensqualität in Deutschland gemessen, bewertet und in Regierungshandeln übersetzt werden könnte. Die bisher dominierende Sicht, die Qualität der Gesellschaft allein auf die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zurückzuführen und damit Hoffnung auf ein unbegrenztes Wachstum zu schüren, ist damit ernsthaft gefährdet, und das ist die zweifellos gute Botschaft des Beschlusses, den der Bundestag schließlich 2013 im Konsens aller Fraktionen traf.
Zwischen April und Oktober 2015 hätten über 200 Bürgerdialoge stattgefunden, an mehr als 50 beteiligten sich Regierungsmitglieder selbst, berichtete die Bundeskanzlerin persönlich in ihrem jüngsten wöchentlichen Podcast. Der Bericht ist das Ergebnis. In verschiedenen »Dimensionen« und Indikatoren sind im Bericht weite Bereiche des Lebens erfasst und auf Zufriedenheitsskalen sortiert. Nach Kriterien wie materieller Wohlstand, sozialer Status und Teilhabe sowie ökologische Entwicklungen wird gruppiert. Dies ist eine begrüßenswerte, unter erheblichem Aufwand der Bundesregierung zustande gekommene Arbeit von hoffentlich weiterem wissenschaftlichen Nutzen. Inwieweit ihre Erkenntnisse in der Bundespolitik Einzug halten, wird schwerer messbar sein.
Ob neue Erkenntnisse entstehen und diese zu neuen Bemühungen der Politik führen werden, erkannte Missstände zu beseitigen, erscheint zumindest fraglich, schon gar für die laufende Amtsperiode der Bundesregierung. Zu komplex sind die Zusammenhänge, zu abhängig die Handlungsoptionen von politischer Interpretation. In prägnantester Erinnerung ist der Bürgerdialog dank einer Versammlung, in der Angela Merkel auf ein Palästinensermädchen traf und dieses zum Weinen brachte, indem sie ihm die Asylpolitik Deutschlands erläuterte. Auch das Mädchen, Reem, hatte seine Erwartungen an ein glückliches Leben deutlich gemacht. Viel Hoffnung jedenfalls konnte die Kanzlerin ihm bei aller Sympathiebekundung nicht machen. Was später folgte, war eine Verschärfung der Asyl- und Aufenthaltsbestimmungen in Deutschland. Die Hasskriminalität vermochte dies so wenig einzudämmen wie den Konflikt zwischen CDU und CSU über eine vermeintlich unangemessene Willkommenskultur in Deutschland.
Was aus dem Bericht weiter zu erfahren ist: Frieden, gute Entlohnung und persönliche Freiheit sind den Menschen in Deutschland für ihre Lebensqualität am wichtigsten. Weitere Parameteer für Zufriedenheit: Wohnen, Solidarität und Hilfsbereitschaft, das Gefühl von Sicherheit, Chancengleichheit im Bildungssystem, Willkommenskultur und Integration, sozialstaatliche Leistungen, intakte Natur, Respekt und Rücksichtnahme, Meinungs- und Informationsfreiheit, Toleranz zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie ehrenamtliches Engagement.
Gestiegene Lebenserwartung und gesunkene Arbeitslosigkeit identifiziert der Bericht als Belege höherer Lebensqualität, auch dass immer mehr Menschen Zugang zu Bildung haben. Die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrer Arbeit ist demnach relativ hoch; auf einer Skala von null (sehr niedrig) bis zehn (sehr hoch) liege der Durchschnitt bei etwa sieben. Sogar der Anstieg der Geburtenrate wird als Lebensqualitätsbeweis genannt, auch wenn die jüngsten Geburtenzahlen durch Expertenkommentare längst relativiert sind. Weil die demografische Lücke noch längst nicht gefüllt wird. Ein Bericht im Auftrag der Bundesregierung kann wohl nicht anders - am Ende wirkt er wie eine Beschönigung der Verhältnisse, selbst wenn die Einzeldaten stimmen. Befremdend auch: Gutes Wohnen, Erhaltung von Schulen oder reibungsloser öffentlicher Nahverkehr sind Zufriedenheitsfaktoren, die nicht so verborgen sind, dass man eine mehrjährige Identifizierung benötigte.
Steigender Hass in der Gesellschaft gehört in den Bericht nicht nur, weil er Sicherheit, also Lebensqualität berührt. Unterstellt, dass der Hass Ausdruck einer wachsenden Distanz zwischen Bürgern und Politik ist, könnte im Lobgesang der Politik auf sich selbst ein innerer Zusammenhang hier auch ungewollt sichtbar werden.
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