Die eine friedliche Ecke
Mit Klappstühlen und Hotdogs stoppte Tamar Manasseh die Gewalt in ihrem Viertel in Chicago
Tamar Manasseh hatte es satt. All die Toten in ihrer Stadt, in dem Viertel, in dem sie aufgewachsen ist. Die ganze Welt reist nach Chicago, um am Ufer des Lake Michigan spazieren zu gehen, die Aussicht vom Sears Tower zu genießen oder sich ein Basketballspiel der Bulls anzusehen. Doch nach Englewood kommt kein Tourist, denn dieses Viertel im Süden der Stadt ist das »hässliche« Gesicht Chicagos. 618 Menschen starben 2016 bereits bei Schießereien in der »Windy City«, 50 davon allein in Englewood. Das ist kein neues Phänomen, es geht schon seit Jahren so. Am 23. Juni 2015 hatte Manasseh das satt, und sie beschloss, etwas dagegen zu tun. Irgendwas. Hauptsache, irgendjemand tut mal irgendwas.
An diesem Tag hatte Manasseh erstmals von Lucille Barnes gehört. Die 34-Jährige war drei Jahre jünger als Manasseh und ebenfalls Mutter. Sie hatte versucht, einen Streit zu schlichten und wurde dabei erschossen, nur wenige Straßen von dem Haus entfernt, in dem Manasseh aufgewachsen war. Es gab Gerüchte über geplante Racheakte. Zudem standen die Sommerferien, in denen die Schulkinder nicht wie sonst auf dem Schulweg beschützt werden, vor der Tür. Also setzte sich Manasseh im pinken T-Shirt an die Todesecke 75. Straße und Stewart Avenue. 16 Monate ist das nun her. Seit diesem Tag starb hier niemand mehr. Es fiel kein einziger Schuss.
Schnell hatten sich andere Mütter Manasseh angeschlossen - diesem Protest, der zu Beginn gar keiner sein sollte. Die »Mothers Against Senseless Killings« (MASK), also Mütter gegen sinnlose Morde, wollten zuallererst ihre Kinder schützen. »Im Sommer ist Mordsaison hier in Chicago. Da konnten unsere Kids nicht draußen rumlaufen und spielen. Das wollten wir ändern«, sagt Manasseh.
In den vergangenen Jahrzehnten wurden schon viele Dinge in Chicago ausprobiert, um die ausufernde Gewalt zu stoppen. Strengere Waffengesetze etwa, die aber auf Druck der Waffenlobby größtenteils wieder eingestampft wurden. Ohnehin war deren Wirkung im Bundesstaat Illinois nicht von Dauer, da die Waffen irgendwann aus den umliegenden Staaten eingeschleust wurden.
Eine härtere Gangart der Polizei führte auch nicht zu weniger Toten, nur zu mehr Misstrauen in der schwarzen Bevölkerung. Die Stadtführung um Bürgermeister Rahm Emanuel hatte sich zu oft an Vertuschungen beteiligt, wenn weiße Polizisten unbewaffnete schwarze Männer erschossen hatten.
Doch wenn sich die Politik raushielt, bewegte sich etwas. Private Initiativen investieren in Bildung, Mentoring und psychologische Beratung von schwarzen Jugendlichen, die gefährdet sind abzudriften. CeaseFire nennt sich ein weiteres Programm, das seit 1995 Ex-Häftlinge zurück in ihre alte Gegend schickt, um bei Streitigkeiten zu schlichten. Treffen sie vor der Polizei ein, geht der Streit meist weniger blutig zu Ende. Diese Männer, selbst früher Drogendealer und Gangmitglieder, genießen noch Respekt. Es ist eine klassische Win-win-Situation. Man lässt Ex-Verbrecher etwas Gutes tun und verhindert, dass neue dazukommen. Ihr Wort zählt etwas im Viertel - jedenfalls mehr als das von Polizisten und Politikern. Letztere unterstützten das Programm immerhin finanziell, und die Mordrate sank um 25 Prozent. Dort, wo CeaseFire eingesetzt wurde, sogar um die Hälfte.
Die Polizisten aber waren nicht begeistert davon, dass in Notfällen diese »Interrupters« von CeaseFire gerufen werden und nicht sie. Ausgerechnet die Typen also, die sie selbst mal ins Gefängnis gebracht hatten. 2015 wurde die Unterstützung dann vom republikanischen Gouverneur Bruce Rauner fast komplett eingestellt - auch weil ihm die demokratische Mehrheit im Parlament keinen ausgeglichenen Haushalt einreichte. Rauner wollte also sparen und entzog CeaseFire das Geld. Von 71 Mitarbeitern blieben nur 14 übrig. Seitdem steigen die Zahlen von Schießereien und Morden wieder an, in manchen Gegenden um mehr als 500 Prozent.
Chicago ist in diesem Jahr die gefährlichste Stadt der USA, während 50 Städte in acht Ländern CeaseFire erfolgreich kopieren. »Ein ausgeglichener Haushalt darf keine Entschuldigung dafür sein, dass ein vielversprechendes Programm unterfinanziert ist - in einer Stadt, in der Sechsjährige beim Spielen auf der Straße erschossen werden«, kommentierte James O›Shea von der »Chicago Sun-Times« die Budgetkürzung.
Tamar Manasseh hat zumindest eine Straßenecke sicherer gemacht. Nur durch ihre Präsenz. »Das klingt viel zu simpel, aber es hilft«, sagt die Autorin mehrerer sozialkritischer Bücher. Ähnliche Beispiele überall im Land bestätigen das. Orte, die sich die Bürger wieder öffentlich zurückholen, werden von Kriminellen gemieden. Drogendealer mögen keine Zeugen, auch Mörder nicht.
Anfangs setzten sich Manasseh und ihre Mitstreiterinnen einfach nur mit Klappstühlen auf den Bürgersteig, verschenkten Hotdogs »und verteilten jede Menge Umarmungen«. Die Community, von der immer gesprochen wird, wurde endlich zur echten Gemeinschaft. »Wenn du deine Nachbarn kennst, sterben keine Menschen. Es bricht keiner mehr in dein Haus ein oder beklaut dich auf der Straße. Das funktioniert«, sagt Manasseh.
Den Grillnachmittagen folgten Patrouillengänge und Aufräumaktionen von zugemüllten Grünflächen. Manasseh in ihrem pinkfarbenen Shirt immer vornweg: »In Englewood wirst du kaum einen Ort finden, an dem mehr Kinder draußen spielen als hier.« Am Montag organisierte sie gemeinsam mit der Methodistenkirche gleich um die Ecke eine Süßigkeiten- und Kostümparty zu Halloween. Einfach von Tür zu Tür gehen und »Süßes oder Saures« schreien, war für Kinder hier lange zu gefährlich. »Ich liebe Tamar, weil sie im Herzen einen großen Drang hat, Menschen zu helfen, und das dann auch tut. Deshalb haben wir schon viele Aktionen miteinander veranstaltet«, erzählt Pastorin Audrea Nanabray. Dabei ist Manasseh keine Christin, sondern Jüdin. »Das ist egal, denn wir haben ein gemeinsames Ziel: diese Gemeinde zu vereinen. Sie hat ihren Rabbi mitgebracht, und wir haben gemeinsam gebetet und sind zu den Feiertagen von Haus zu Haus gegangen und haben gesungen«, erinnert sich Nanabray.
Englewood ist noch immer nicht waffenfrei. Es gibt weiterhin viele Schusswechsel, nur eben nicht mehr an der Ecke 75. und Stewart. Finanzielle Unterstützung bekommt MASK trotzdem nicht. Anwohner spenden, obwohl sie selbst kaum etwas haben. Englewood ist nicht sexy, unwichtig für Investoren und Touristen. Die meisten Häuser hier sind nicht aus Beton, sondern aus dünnen Holzplatten, die Rasenflächen wuchern vor sich hin und statt der Müllabfuhr säubert eine Gruppe von Häftlingen unter den strengen Augen der Aufseher die vermüllten Straßen. Fast die Hälfte aller Haushalte lebt hier unter der Armutsgrenze. Mehr als 20 Prozent sind arbeitslos. Nach den üblichen Standards ist das nicht mal mehr ein Arbeiterviertel, Englewood ist ein Armenviertel.
Und doch spricht Donald Trump viel über solche Gegenden. »Die schwarzen Innenstädte sind ein Desaster«, sagt er. »Hillary Clinton und die Demokraten wollen nur eure Wählerstimmen, und dann lassen sie euch wieder im Stich. Warum probiert ihr nicht mal was Neues«, lautete Trumps rhetorische Frage in vielen Wahlkampfreden.
Die Zuhörer des republikanischen Präsidentschaftskandidaten sind allerdings fast ausnahmslos weiß. Die meisten sind Menschen der Arbeiterklasse, die - im Gegensatz zu den meisten Schwarzen - erst seit wenigen Jahren unzufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Lage sind und in Trump ihren Retter sehen. Viele sind mindestens latent rassistisch, viele aber auch nicht. Sie arbeiten seit Jahren Seite an Seite mit Schwarzen und Latinos, haben sich mit ihnen angefreundet. Sie wollen keinen Mann wählen, der Mexikaner als »Vergewaltiger« denunziert und Schwarzen das Wohnen in seinen Gebäuden verwehrte. Wenn Trump nun Englewood und Co. verspricht zu helfen, spricht er im Grunde zu diesen Weißen: Ich bin gar kein Rassist. Ihr könnt also beruhigt sein und mich wählen.
Wie genau er Arbeitsplätze nach Englewood bringen will, erklärt Trump nie. Dabei wäre Arbeit wohl das beste Mittel, um die Gewalt einzudämmen, doch Trump präferiert »Stop & Frisk«. Diese Methode, bei der Polizisten ohne Verdacht Passanten stoppen und durchsuchen, habe in New York wunderbar funktioniert, sagt er. Dass ein Gericht das Verfahren als verfassungswidrig kassierte, weil bei der Auswahl der Verdächtigen Racial Profiling betrieben wird, kümmert ihn nicht, denn seinen weißen Wählern gefällt es, wenn die Polizei die bösen Schwarzen von der Straße holt.
In Englewood wird so gut wie niemand Trump wählen. Doch auch Hillary Clinton wird kaum die Zustimmungswerte von Barack Obama erreichen, da sie in den 90ern schwarze gewalttätige Jugendliche mal als »Superverbrecher« bezeichnet hat. Illinois ist jedoch fest in demokratischer Hand. Ob nun 85 oder 95 Prozent der Schwarzen für Clinton stimmen: Den Bundesstaat wird sie sicher gewinnen.
Tamar Manasseh trägt in diesen Tagen nicht pink, sondern blau. Ihr Lieblingsbaseballteam, die Chicago Cubs, versuchen mal wieder, die Meisterschaft zu gewinnen - erstmals seit 1908. Das ist ihr wichtiger als die Wahl, denn egal, wer die gewinnt, Manasseh rechnet nicht damit, dass sich dadurch irgendetwas ändern wird. »Niemand wird kommen, um uns zu retten. Wir müssen uns selbst retten. Und manchmal ist die beste Art aufzustehen, sich auf einen Klappstuhl zu setzen.«
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