Bei der fast seligen EU
Martin Leidenfrost suchte ein europäisches Wunder, fand aber heraus, dass es womöglich in der Zukunft liegt
Nun, da die EU ohne äußere Verbündete und ohne inneren Zusammenhalt zerbröckelt, zieht es mich manchmal zu den Gründervätern der europäischen Einigung. Ich besuchte die Verbannungsinsel Ventotene, auf welcher der Eurokommunist Altiero Spinelli sein Manifest für einen europäischen Verfassungskonvent gleich nach dem Krieg schrieb. Statt Spinellis revolutionärem Föderalismus setzte sich der technokratische Funktionalismus des Cognac-Händlers Jean Monnet durch. Ich besuchte auch die Firma Monnet. Die Cognac-Marke des Freihandelsbefürworters Monnet wird rund um den Globus hin- und herverkauft.
Robert Schuman, 1950 Initiator der »Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl«, hielt ich für den uninteressantesten EU-Gründer: In Luxemburg von einer Luxemburgerin geboren, in Deutschland ausgebildet, aus dem französischen Lothringen in die nationale französische Politik aufgestiegen, litt Schuman an einem Dilemma der Loyalitäten. Man könnte seine Europa-Idee damit abtun, dass er sich mit ihr selbst erlöste. Ich merkte erst auf, als ich hörte, dass die katholische Kirche seit 1990 ein Verfahren über eine Seligsprechung Schumans führt. Zeitlebens unverheiratet, führte er ein beinahe priesterliches Leben.
Ich wurde in einen gutbürgerlichen Vorort von Metz geladen. Die Seligsprechungs-Lobby vermutete ich in einer umwucherten Villa, doch dann winkte mir Madame von einem Balkon dahinter. Das »Institut Saint-Benoit« saß in ihrer klassisch-bürgerlichen Wohnung. Das Institut hat ein Ehrenkomitee, in dem aber keine Politiker vertreten sind. Politik und Heiligkeit, meinte Ehrenvorsitzender Jacques Paragon, klein und hager, wann geht das schon zusammen.
Im Wohnzimmer saß auch ein pausbäckiger Metzer Domherr, Joseph Jost. »Das ist eine wissenschaftliche Untersuchung«, begann er zu erklären, seit zehn Jahren arbeitete er nur an diesem Dossier. Von 1990 bis 2004 untersuchte die Erzdiözese Metz Schumans Leben, »alles, was er geschrieben hat, auch eine Postkarte aus Italien, und alles was über ihn geschrieben wurde, und das wurde alles von zwei Theologen und von Historikern geprüft«. Das machte 15 000 Seiten, die Jost mehrmals las und die in 46 Mappen nach Rom gingen. Er sagte: »Das ist auch eine gerichtliche Untersuchung.« So sei der Vorwurf, Schuman habe im Algerien-Krieg eine Folterung geduldet, widerlegt worden. Zur Heiligkeit sind es vier Stufen, Schuman steht auf der ersten, »Diener Gottes«. Wegen einer neuen vatikanischen Vorschrift muss Jost seine Synthese soeben von 2500 auf 700 Seiten kürzen. Dann aber könnten die Römer Kardinäle schon bald den Aufstieg in die zweite Stufe empfehlen, »der Verehrung würdig«.
Ich fragte nach dem großen Problem: Schuman kann nur seliggesprochen werden, wenn ein Wunder nachgewiesen wird. Der Pfarrer beschrieb es so: »Es gibt in Rom zwei Stapel, einen mit Wunder und einen ohne. Wir sind ohne Wunder.« Ich fragte, ob sie nicht versucht hätten, die Montanunion als Wunder einzureichen. Jost schüttelt den Kopf: »Nur eine medizinisch unerklärbare, definitive Heilung gilt als Wunder.« - »Zählt der Friede in Europa gar nicht?« - »Nein, der Friede ist niemals definitiv.« Nach dieser niederschmetternden Auskunft verstand ich den Optimismus der drei nicht mehr. Sie mussten es mir mehrmals erklären. Wenn ich sie nicht falsch verstand, dann liegt das Wunder in der Zukunft. Deswegen propagieren sie das Gebet. Jost: »Man muss Gott um ein Wunder bitten. Wenn man es erbittet, wird Gott es geben.«
Man wechselte an die Speisetafel. Wie in Frankreich Brauch, sprach man beim Essen nicht übers Geschäft. Paragon war Ingenieur in der Metallindustrie gewesen, seine Frau Funktionärin einer Familienorganisation. Paragon strich lebhaft seine Germanophilie hervor. Er schätzte Wagner, »durchaus auch mit seinen Exzessen«. Ohne Wagner zu hören, gelang mir endlich eine Smalltalk-Replik: »Aber was wäre Wagner ohne Exzess?« - »Exakt!« Pfarrer Jost hatte 17 Jahre in Rom gelebt und die 1200 Kilometer von Metz gerne an einem Tag gemacht. Er griff mit Appetit zu. Der Nachtisch war unvergesslich, eingelegte Birne von süßer Kühle. Schließlich fing ich wieder mit Schuman an. Betete er als Minister wirklich den Rosenkranz im Autobus? Ging er wirklich vor dem Haushaltsausschuss in die Messe? Handelte er wirklich nach der Maxime, »dass man nicht einmal in der Politik lügen darf«? Ich staunte, wie überzeugt ich Montigny-les-Metz verließ.
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