Digitale Zurückhaltung
Erfolgreiches Telemedizinprojekt für junge Epileptiker bleibt eine Ausnahme
Epilepsie beginnt in der Hälfte aller Fälle schon im Kindesalter. Eine zügige Diagnostik und eine gute Therapie können den betroffenen Familien zumindest einen Teil ihrer Sorgen nehmen. Möglich ist das im Epilepsiezentrum für Kinder und Jugendliche in Schwentinental in der Nähe von Kiel. Fast alle in dieser Einrichtung des Deutschen Roten Kreuzes betreuten Patienten aus sieben norddeutschen Bundesländern nutzen das telemedizinische Programm EPI-Vista. Das internetbasierte System ist eine Art Anfalls-Tagebuch, das die jugendlichen Epileptiker und ihre Familien begleitet. Grundlage des Vertrags der Integrierten Versorgung (IV), durchgeführt wird es vom Norddeutschen Epilepsienetz, dem Kliniken, Ärzte, bisher vier Krankenkassen wie die Techniker und die Barmer GEK, die Beratungsfirma GSB sowie das mittelständische Pharmahersteller Desitin angehören. Von letzterem wurde das Programm über mehrere Jahre weiterentwickelt. Die Desitin stellt zwar auch Anti-Epileptika her, das Programm sichert den Ärzten aber Therapiefreiheit.
Jörn-Dieter Korsch, Geschäftsführer des Epilepsiezentrums, erklärt, dass die Patienten oder deren Eltern Herren der Daten sind. Jedoch bekommen die behandelnden Ärzte in der Regel das Passwort. Dann kann mit den ständig aktualisierten Eintragungen auch eine telefonische Sprechstunde abgehalten werden. Die durchschnittliche Verweildauer zu Diagnostik und medikamentöser Einstellung in der Klinik betrug früher durchschnittlich 24 Tage, mit der Nutzung von EPI-Vista sank sie auf 5,3 Tage. In den IV-Vertrag eingebunden sind drei Viertel der Neuro-Pädiater aus dem Einzugsgebiet. Die Ärzte reagieren schnell: Innerhalb von 48 Stunden antworten sie auf Mailanfragen, innerhalb von 24 Stunden wird zurückgerufen, wenn das gewünscht ist. Angesichts solcher Fristen erinnern sich viele frustriert daran, wie schwer es in der Regel ist, den behandelnden Krankenhausarzt überhaupt mal ans Telefon zu bekommen.
EPI-Vista eignet sich mit einiger Sicherheit auch für weitere chronische Krankheiten. Jedoch gibt es bisher keine Interessenten dafür. Warum gibt es überhaupt nur äußerst wenige solcher Verträge, in die auch Pharmahersteller eingebunden sind? »Die Hersteller müssen dabei auch erst einmal über ihren Schatten springen«, meint Norbert Gerbsch vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Vermutlich sind das auch Folgen eines früheren Versuchs: 2010 hatte eine Tochterfirma des Unternehmens Janssen-Cilag den Zuschlag für ein IV-Projekt zur Versorgung von Schizophrenie-Patienten erhalten. Damals gab es von vielen Seiten Vorbehalte, etwa gegen eine zu sehr medikamentenzentrierte Therapie.
Hingegen macht BPI-Vertreter Gerbsch deutlich, dass für die Pharmaunternehmen Digitalisierung generell die Chance ist, den Nutzern ihrer Produkte eine optimale Therapie anzubieten. Therapietreue ist dabei ein Aspekt, sie kann durch Anwendungen für Smartphones oder andere Online-Programme gestützt werden. In diesem Bereich hakt es aber oft noch.
Der Medienwirtschaftler Alexander Schachinger spricht sogar von zwei Parallelwelten - auf der einen Seite das traditionelle Gesundheitssystem, auf der anderen 40 Millionen Deutsche, die mit ihren Gesundheitsproblemen online unterwegs sind. Schachinger hat sich auf Patientenaktivitäten in der Welt des Internets spezialisiert und mehrfach Online-Befragungnen durchgeführt. Er kritisiert, dass in der Bundesrepublik die vielen Gesundheits-Apps nicht klinisch bewertet werden und Ärzte sie deshalb auch nicht empfehlen. Das sei ein Potenzial, das Krankenkassen und Versorger bisher verschenken.
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