Was für Wahrzeichen!

Sinfonische »Stolpersteine« in Hildesheim, Uraufführung des »Sinfonischen Freskos« von Erwin Johannes Bach

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Was für Wahrzeichen! Der Mariendom, St. Michaelis, beide zum UNESCO-Welterbe erklärt, St. Andreas, die St. Godehard-Basilika, Gebäude, sämtlich aufs Schönste wiedererrichtet, mit neuen Orgeln versehen, allen Interessenten Einlass gewährend. Ausliegende Zettel kündigen Chor - und Orgelkonzerte an. Kultur floriert. Das Theater für Niedersachsen in Hildesheim (TfN) enthält sich nicht. Im Gegenteil, es setzt eigene Zeichen. Es brachte Werke von Max Bruch, eine Uraufführung von Erwin Johannes Bach, Sohn der Stadt, und eine Sinfonie von Schostakowitsch zur Aufführung. Die Musik zu verstehen, genügt es nicht, ins Programmheft zu schauen oder die Gesänge und Klänge lediglich zu konsumieren. Geschichtliches spielt mit hinein.

Unvergessen ist: Sechs Wochen vor Kriegsende war die Stadt noch Stadt. Halbwegs. Bombenalarm hörten die Hildesheimer schon vorher. Doch am 23. März 1945, wenige Tage vor dem Einmarsch von US-Truppen, stürmte das Feuer so sehr, dass die historische Altstadt zu 90 Prozent weggerissen wurde, mit ihr der ehrwürdige Markplatz in Stücke ging, die Kirchen nur noch in Torsi das Trümmerfeld zierten. Keine Glocke läutete in jener Nacht. Bilanz: 1000 Menschen starben. Der Tag hat sich eingebrannt in die Annalen. Veranstaltungen weisen darauf. »Lux in tenebris«, ein Oratorium zum Gedenken an jene Bombardierung, das Helge Burggrabe komponierte, soll 2017 im Mariendom mehrmals zur Aufführung kommen.

Reflexe auf Geschichte auch in dem zur Rede stehenden Konzert. Das TfN veranstaltete es gemeinsam mit dem Hildesheimer Gymnasium Andreanum. Recht gewählt der Titel Sinfonische »Stolpersteine«. Werner Seitzer, Chef des Hausorchesters und spiritus rector der Unternehmung, führte vom Podium aus in die Stücke ein, benannte Biografisches, erklärte Umstände ihrer Entstehung und ihre Hintergründe. Seitzer, der beinversehrte Dirigent, bestreitet seine letzte Saison am Hause und fand eindringliche Worte. Was da heute auf deutschen Straßen herumfackelt und das Maul aufreißt, obendrein Deutschtum und Judenfeindschaft in die Köpfe hämmert, diese Sorte Mensch meinte er, ohne es so zu sagen. Dem entgegen stehe die Musik.

Einleitend erklang Max Bruchs wunderbares »Kol Nidrei«, Adagio nach Hebräischen Melodien op. 47 für Violoncello und Orchester. Eine sanfte, traurige, seelenruhige Musik für Streichorchester mit melisch ausschwingenden Cellopartien, einfühlsam gespielt von Rouven Schirmer, der das Glück hat, ein hervorragend klingendes Instrument zu besitzen. Zentral die Uraufführung des Sinfonischen Freskos von Erwin Johannes Bach »Ruf an die Menschheit«, ein Werk für »Großes Symphonieorchester«. Das Hildesheimer Orchester legte alles hinein in dieses vielsätzige, spröde, in seinen Stimmungen teils rasch wechselnde Stück.

Außergewöhnlich die Biographie des Komponisten. Geboren 1897 in Hildesheim, besucht er dort noch das Gymnasium Andreanum, bevor er nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin Musikwissenschaft und Philosophie studiert, daneben Komposition, Dirigieren, Piano und Instrumentation. Freiberuflich betätigt er sich hernach als Konzertpianist und Schriftsteller. Aus seiner Feder stammt das gelobte wie kritisierte Grundlagenwerk »Die vollendete Klaviertechnik«. Mit Beginn der Nazi-Ära ist er als KPD-Mitglied illegal tätig. 1934 flieht der Jude Bach über Prag nach Moskau, wird Professor für Musikwissenschaft am dortigen Konservatorium. In der UdSSR ist er in der Folgezeit Repressalien ausgesetzt, kann aber in seinen Fächern arbeiten. Er lernt Schostakowitsch kennen und befreundet sich mit ihm. Nach dem Krieg engagiert er sich in der SBZ und später in der DDR in verschiedenen Tätigkeiten, unter anderem leitet er die Interalliierte Musik-Leihbibliothek. Bach stirbt 1961 als in der Szene unbekannter oder zu vernachlässigender Komponist.

Zuletzt kam, vorbildlich musiziert und gesungen, die 13. Sinfonie von Schostakowitsch auf Texte von Jewtuschenko, vor allem bekannt geworden durch ihren 1. Satz »Babij Jar«, eine Trauer - und Protestmusik auf die 1941 bei Kiew ermordeten 25 000 sowjetischen Juden. Insgesamt eine überwältigende Aufführung. Auf dem Podium das TfN-Hausorchester unter Werner Seitzer, die jungen Choristen des Hildesheimer Andreanum, an dem auch Erwin Johannes Bach ausgebildet worden war, und der Dresdener Johannes von Duisburg, dessen machtvoller, klarer, in jeder Silbe verständlicher Bass einem Schauer in der Rückengegend bereitete.

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