Mit Wikipedia auf Du und Du

Ursel Ilgner aus Leipzig ist schon lange Rentnerin - und sie gilt als Expertin für das Internet

  • Heidrun Böger, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.

Ursel Ilgner ist die etwas andere Oma. Wenn sie ihre sieben- und zehnjährigen Enkel besucht, fragen die gleich, ob sie ihnen an ihrem Tablet etwas zeigt. Wohlgemerkt: am Tablet der Oma, nicht der Enkel. Die 74-Jährige ist fit, was Onlinebanking, Wikipedia und und ähnliches betrifft. Für ihr Wissen erhielt sie sogar einen Preis.

Denn wo andere über 70-Jährige keine Ahnung haben, kennt sich die Leipzigerin bestens aus. Sie kann surfen, streamen und skypen, verschickt Whatsapp-Nachrichten. Beim Gespräch in der Universität holt sie gleich ihr Tablet raus (das kleine - sie hat auch noch ein großes, einen Laptop und ein Smartphone zum Telefonieren): »Hier in der Uni habe ich ja W-Lan, kostenloses Internet. Warum klappt das nicht? Ich schau mal in den Einstellungen.«

Die frühere Angestellte beim Finanzamt Leipzig kam über das Seniorenkolleg der Universität Leipzig und die dortige Arbeitsgemeinschaft »Multimediale Anwendungen der Computertechnik« zum Internet. Für das ehrenamtliche Projekt »Professorenkatalog der Universität Leipzig|catalogus professorium lipsiensium« forscht sie seit 2006 in Archiven und stellt die Biografien gemeinsam mit vier anderen Senioren in einer online-Datenbank für den Zeitraum 1941 bis 1980 zusammen. Dabei nutzt sie auch bereits vorhandene Einträge in der Wikipedia. Auch ihre Leidenschaft für Wikipedia zu schreiben wurde durch Seniorenkurse an der Universität Leipzig geweckt.

Theoretisch kann jeder Beiträge zu Julius Cäsar, zur Mondlandung oder über die Funktion eines Anspitzers einstellen. In der Praxis muss man dazu erst einige Texte mit guter Qualität geschrieben und/oder bearbeitet haben, um dann sogenannte Sichterrechte zu erhalten. Die hat Ursel Ilgner. Das heißt, sie kann ihre eigenen Beiträge und die anderer bei Wikipedia freigeben - über 1600 Bearbeitungen hat sie inzwischen vorzuweisen.

»Oft arbeite ich nachts, weil ich tagsüber so viel zu tun habe.« Nicht nur in der Arbeitsgemeinschaft »Multimediale Anwendungen der Computertechnik « arbeitet sie mit, sie besucht an der Universität auch Vorlesungen in Geschichte und Staatsrecht und geht zum Leipziger Wikipedia-Stammtisch. Und dann ist da natürlich die Familie: Ihr Mann ist gehbehindert und braucht Hilfe. Donnerstags fährt sie ihren Enkel zur Musikschule. Schließlich noch der Haushalt - für den Garten bleibt kaum Zeit.

Was treibt Ursel Ilgner an? »Als ich 2004 in Rente ging, wollte ich etwas tun, um geistig fit zu bleiben.« Da war sie 63 Jahre alt. Mit Computern und Software hatte sie schon bei ihrer Arbeit im Finanzamt als Betriebsprüferin zu tun. Danach ging es erst richtig los. Word und Excel, also Programme fürs Schreiben und Rechnen, dazu Bildbearbeitung. Sie hat Apps, kleine Programme, auf ihren Tablets, mit denen sie nach dem Wetter sieht, Nachrichten liest, Radio hört und Fernsehbeiträge schaut. »Zu Hause habe ich mein Tablet drahtlos über Bluetooth mit Lautsprechern verbunden.« Natürlich versteht auch sie nicht immer gleich, wie alles funktioniert. »Dann schaue ich mir ein Video auf Youtube an und probiere so lange, bis es klappt.«

Kürzlich hat sie bei Wikipedia einen Beitrag zum Capa-Haus in Leipzig eingestellt - das Haus, in dem ein berühmtes Foto entstand, das den letzten Toten im Zweiten Weltkrieg zeigt. Dafür recherchierte sie online und fotografierte das Haus sowie den aus den USA angereisten 96-jährigen Zeitzeugen Lehman Riggs, der seinen Kameraden auf dem Balkon des Hauses am 18. April 1945 sterben sah. Auch Beiträge über den Leipziger Maler Siegfried Ratzlaff oder die Filmemacherin Alina Cyranek hat sie verfasst.

Für Ihr Engagement bekam sie 2015 den »Goldenen Internetpreis«, der Seniorinnen und Senioren würdigt, die im Netz besonders aktiv sind. Partner sind unter anderem die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen und Google. Etwa 130 Bewerbungen gab es dafür. Dieses Jahr war Ursel Ilgner in der Jury, die über die Würdigung entschied. Gerade kommt sie von der Auszeichnungsveranstaltung in Berlin zurück, wo sie auch Laudatorin für zwei der fünf Preisträger war: »Das ist eine schöne Anerkennung für meine Arbeit.« Bedauerlich findet sie nur, dass dieses Jahr niemand aus dem Osten die Auszeichnung erhielt und dass Frauen unterrepräsentiert sind.

Ursel Ilgner machte die Erfahrung, dass Andere in ihrem Alter wenig Interesse am Internet haben. Für ihren Mann, einen Juristen, sucht sie Urteile im Netz heraus (»Das könnte er doch auch selbst, das ist ganz leicht«). Und sie hat eine Schulfreundin, die bei New York lebt: »Schade, dass sie so wenig Interesse am Internet hat. Wir könnten so wunderbar skypen.«

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