Ein Fußballer bricht das Schweigen
Der Missbrauchsskandal in England weitet sich aus, der nationale Verband und Vereine versprechen Aufklärung
Das Vorstandstreffen des englischen Fußballverbandes FA am Mittwoch hätte für dessen Vorsitzenden Greg Clarke ein Grund zur Freude sein sollen. Die FA beschloss, Interimstrainer Gareth Southgate zum neuen Nationalcoach zu machen - eine Erleichterung nach wochenlanger Hängepartie. Doch auf der Agenda des Treffens stand noch ein anderes, sehr viel schwierigeres Thema: die laut Clarke »größte Krise« in der Geschichte der FA. England wird seit zwei Wochen von einem Missbrauchsskandal erschüttert; fast täglich melden sich seither Betroffene, darunter frühere Nationalspieler, die als Kinder und Jugendliche meist in den 1980er- und 90er-Jahren von Trainern oder Scouts auch großer Klubs sexuell missbraucht worden sein sollen.
Auslöser war ein mutiges Interview des Ex-Profis Andy Woodward in der BBC. Dort berichtete der 43-Jährige, wie er im Alter zwischen elf und 15 Jahren als Spieler des heutigen Viertligisten Crewe Alexandra missbraucht wurde - und von fehlender Unterstützung, als er innerhalb des Klubs um Hilfe bat. »Das ist die Mentalität des Fußballs«, sagte Woodward, »dass nichts nach außen dringt.«
Das will Clarke jetzt ändern. Der FA-Vorsitzende spricht von »abscheulichen Verbrechen«. Am Sonntag beschloss der Verband, eine Untersuchung einzuleiten, über deren Details am Mittwoch beraten wurde. Clarke stellte Betroffenen Entschädigungszahlungen in Aussicht, die in die Millionen gehen könnten. Klubs und verantwortliche Personen sollen zur Rechenschaft gezogen werden, die Vertuschungen endlich aufhören. »Und wenn die FA dabei schlecht aussieht, dann soll das so sein«, sagte Clarke.
Doch nicht nur die FA muss um ihr Image fürchten. Wie die »Times« und der »Daily Telegraph« am Mittwoch übereinstimmend berichteten, soll der FC Chelsea London einem ehemaligen Jugendspieler des Klubs in den vergangenen drei Jahren ein Schweigegeld bezahlt haben. Der Kicker soll gedroht haben, öffentlich über sein Martyrium unter dem früheren Chefscout Eddie Heath zu berichten. Heath, von 1968 bis 1979 in dieser Rolle aktiv und inzwischen verstorben, hat zahlreiche prominente Profis entdeckt, darunter den späteren England-Kapitän Ray Wilkins. Wilkins verteidigte Heath als »großartigen Typen«, die »Times« jedoch zitierte einen namentlich nicht genannten Jugendspieler aus den 1970er-Jahren so: »Jeder sagte: Lass dich nicht von ihm unter der Dusche erwischen oder nach Hause fahren.« Chelsea kündigte eine Untersuchung von Heaths Zeit beim klub an.
Derweil berichtete der ehemalige Nationalspieler Paul Stewart, er sei wie Woodward zwischen elf und 15 täglich von seinem Coach missbraucht worden. »Er war ein Monster«, sagte er über seinen Peiniger, der Missbrauch habe ihn in Alkohol- und Drogensucht gestürzt. Andere Talente von einst berichteten, wie ihr Traum vom Profifußball zum Albtraum wurde. Laut Spielergewerkschaft PFA hätten sich inzwischen mehr als 20 Ex-Profis mit ähnlichen Geschichten gemeldet, bei einer eigens eingerichteten Hotline seien mehr als 100 Anrufe eingegangen. Polizeistationen in acht Bezirken ermitteln.
Stewart glaubt, es könne schlimmer werden als beim Savile-Fall. Der ehemalige Entertainer Jimmy Savile hatte jahrzehntelang Minderjährige missbraucht, was erst nach seinem Tod 2011 bekannt geworden war. »Ich glaube, dass es damals einen Pädophilenring gab«, sagte Jason Dunford, ehemals Manchester City. SID/nd
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