Dieses Werk braucht keine Kirche

Johann Sebastian Bachs »Weihnachtsoratorium« mit den Leipziger Thomanern im Berliner Konzerthaus

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Besuch einer Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach gehört für viele Menschen zu den Ritualen der Weihnachtszeit. Egal ob in einer großen Konzerthalle oder in einer Dorfkapelle, egal ob von renommierten Chören und Orchestern oder dem örtlichen Kirchenchor interpretiert - wohl kaum ein Werk der Musikgeschichte hat eine derartige Strahlkraft als klingendes Symbol für den christlichen Glauben an die Geburt von Jesus Christus erlangt. Aber auch weit darüber hinaus, denn dieses sechsteilige Oratorium, dessen einzelnen Teile zwischen dem 25. Dezember 1734 und dem 6. Januar 1735 in den beiden großen Leipziger Kirchen uraufgeführt wurden, ist Ausdruck der schier überbordenden, universellen Tonsprache des wohl größten deutschen Barockkomponisten.

Auch die Arbeitsweise von Bach spricht dafür, dass die Musik keineswegs ausschließlich im liturgischen Zusammenhang zu verstehen ist. 19 der 64 Nummern des Weihnachtsoratoriums sind Plagiate, also Neubearbeitungen und -textierungen bereits existierender Chöre und Arien. So erklang der berühmte Eingangschor »Jauchzet, frohlocket« bereits 1733 in einer weltlichen Glückwunschkantate für die Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, Maria Josepha, mit dem Titel »Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!« Und wenn dieses große Werk wie am vergangenen Wochenende an drei aufeinander folgenden Tagen im Berliner Konzerthaus aufgeführt wird, dann ist es quasi säkularisiert und weist auch atmosphärisch kaum Bezüge zu seinem ursprünglichen Verwendungszweck auf. Im Gegenteil: Das Konzerthaus ist in diesen Tagen fast schon eine Fluchtburg vor dem kommerziellen Weihnachtsgedöns auf dem Gendarmenmarkt und in den umliegenden Straßen.

Natürlich ist es immer wieder besonders reizvoll, das Weihnachtsoratorium von den Thomanern zu hören, also jenem vor über 800 Jahren gegründeten Knabenchor, der unter der Leitung von Bach auch die Uraufführungen bestritt. Rund um den Chor gab es in jüngster Vergangenheit einige Turbulenzen, nachdem Thomaskantor Georg Christoph Biller im Januar 2015 verkündet hatte, das Amt nach mehr als 22 Jahren aus gesundheitlichen Gründen aufzugeben. Für die Arbeit des Chores bedeutete das zunächst keine Zäsur, da mit Gotthold Schwarz ein profilierter Kirchenmusiker als Interimus die Leitung übernahm, der den Chor aus langjähriger Zusammenarbeit bestens kennt und Biller bereits des öfteren auch für längere Phasen überzeugend vertreten hat.

Doch die Stadt Leipzig wollte den neuen Kantor in einem internationalen, mehrstufigen Auswahlverfahren bestimmen, an dem sich Schwarz nicht beteiligen mochte. Das Verfahren wurde zum Fiasko, die Auswahlkommission konnte sich auf keinen Bewerber einigen und trug schließlich nach über einem Jahr dem Interimus das Thomaskantorat an, als 17. Nachfolger von Johann Sebastian Bach. Die offizielle Amtseinführung erfolgte dann am 20. August 2016.

Natürlich hatte dieses Auswahlverfahren, zu dem auch Probedirigate der Kandidaten gehörten, für erhebliche Unruhe im Chor und seinem Umfeld gesorgt, und Schwarz musste mit dem kleinen Makel leben, eine Art »Verlegenheitslösung« zu sein. Doch das kennt man in Leipzig, Auch Bach war 1723 nur die »vierte Wahl«, nachdem die drei Favoriten den Stadtoberen abgesagt hatten bzw. ihre alten Dienstverhältnisse nicht auflösen konnten.

Mittlerweile werden wohl alle Zweifler verstummt sein, und auch am Sonntag im Konzerthaus präsentierte sich der Chor mit der gewohnten Brillanz und Präzision. Mehr noch: Unter der Leitung von Schwarz verschmolzen Chor, das angemessen schmal besetzte Konzerthausorchester und die hervorragenden Solisten zu einem Gesamtkunstwerk, von dem viele magische Momente ausgingen. Besonders das Duett der Altistin Susanne Langner mit der Solo-Violinistin Sayako Kusaka in der Arie »Schließe, mein Herze, dies selige Wunder« verdeutlichte den gewählten Stil: Klarheit, Reinheit, Verzicht auf Marinismen aller Art. Man braucht jedenfalls kein religiöses Bekenntnis, um diese Musik als Kraftquelle zu erleben.

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