Flüchtlinge nach dem Anschlag erschrocken und verunsichert
Trauer und Gedenken am Breitscheidplatz / Senat und Parteispitzen tragen sich in das Kondolenzbuch ein / Verunsicherung in Notunterkünften
Rund um die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin haben am Dienstagmorgen Menschen Blumen abgelegt und Kerzen angezündet. Die Buden des Weihnachtsmarktes sind geschlossen, der Bereich zwischen Gedächtniskirche und Budapester Straße ist abgesperrt, Polizisten bewachen die Szenerie. Hier ist am vergangenen Montagabend ein Lkw in die Menschenmenge hineingefahren. Zwölf Menschen starben bisher, fast 50 wurden verletzt, zum Teil schwer.
Die Budapester Straße ist vor dem Weihnachtsmarkt gesperrt, Sichtschutzwände versperren zum Teil den Blick. Dennoch sind zerstörte Holzbuden zu erkennen. »Die sollten den Weihnachtsmarkt einfach abbauen«, sagt eine Passantin, »da will doch jetzt sowieso niemand mehr hin.« Sie will sich in der Gedächtniskirche ins Kondolenzbuch eintragen, doch die ist nur von der anderen Seite aus zu erreichen.
Dort steht Axel Kaiser. Er betreibt eine der Buden, die sogenannte Weihnachtsterrasse. Die war am Montagabend voll, als Kaiser plötzlich einen lauten Knall hörte. »Ich dachte zuerst, eine Gasflasche sei explodiert«, erzählt er. Anschließend habe er Schreie gehört und sei von einer Schlägerei ausgegangen. Dann sah er den Lkw, konnte aus seiner Position aber nicht erkennen, was passiert war. »Dass es Opfer gab, haben wir erst realisiert, als wir Nachrichten gehört haben.« Schausteller waren Kaiser zufolge nicht darunter.
Über dem Breitscheidplatz kreist mittlerweile geräuschvoll eine Polizeidrohne. Kurz darauf kommt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) zur Gedächtniskirche, gemeinsam mit den Spitzen der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien, den neuen Senatsmitgliedern und weiteren prominenten Politikern und Kirchenvertretern. Nacheinander tragen sie sich in das Kondolenzbuch ein. Es gibt keine Ansprache, weder seitens der Politiker noch des Pfarrers. Nach der stillen Zeremonie sagte Kultursenator Klaus Lederer (LINKE) dem »nd«: »Man ist einfach sprachlos, fassungslos.« Später trugen sich auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundespräsident Joachim Gauck in das Kondolenzbuch ein.
Nachdem am Montagabend zunächst ein Flüchtling aus Pakistan oder Afghanistan als tatverdächtig festgenommen worden war, wurde am frühen Dienstagmorgen eine Flüchtlingsunterkunft in den Hangars des ehemaligen Flughafen Tempelhof durchsucht. Bewohner zweier weiterer Notunterkünfte beobachteten am Dienstagmorgen ebenfalls Polizisten vor ihren Heimen. Dem »nd« gegenüber zeigten sie sich erschrocken über die Tat, aber auch verunsichert, da ein Flüchtling verdächtigt worden war.
Die für Flüchtlingspolitik zuständige Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE) warnte davor, vorschnelle Schlüsse zu ziehen: »Man muss jetzt erst einmal die Untersuchungen abwarten.«
Tatsächlich verdichteten sich im Laufe des Dienstags die Zweifel, dass der Tatverdächtige nicht der Täter ist. Das bestätigte auch Generalbundesanwalt Peter Frank.
Während die Gedächtniskirche am Dienstag gut besucht wurde, waren die zum Teil gesperrte Tauentzienstraße und der Kurfürstendamm, die beliebteste Einkaufsmeile im Westteil der Stadt, verhältnismäßig leer. »Es ist schon ein seltsames Gefühl, hier heute zu arbeiten«, sagte eine Verkäuferin in einem Geschäft gegenüber dem Weihnachtsmarkt. Sie sei froh, dass heute weniger Kunden in den Laden kämen. Das Geschäft an diesem Tag ganz zu schließen, habe aber nicht zur Debatte gestanden.
Für 15 Uhr hatte Innensenator Andreas Geisel (SPD) zu einer landesweiten Schweigeminute aufgerufen. Das Brandenburger Tor sollte um 18 Uhr in den Farben der Bundesrepublik und den Berliner Landesfarben beleuchtet werden.
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