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Das Gegenteil einer Einheitsschule

Gemeinschaftsschule wird Regelschule / Ein Beispiel zeigt, was sie kann - und was nicht

  • Ellen Wesemüller
  • Lesedauer: 6 Min.

Mit Rot-Rot-Grün wird die Gemeinschaftsschule zur Regelschulart, sie soll künftig bevorzugt gebaut werden. Ein Besuch auf dem Campus Hannah Höch zeigt, was funktioniert - und was noch nicht.

Von Ellen Wesemüller

Yusuf sitzt mit vier anderen Kindern an einem kleinen Tisch in der Ecke des Raumes. Vor ihm liegt ein Textauszug des Märchens von Rotkäppchen. Yusuf bewegt stumm die Lippen. »Du sollst vorlesen, nicht innendrin«, sagt Roserin ihm gegenüber. Dann klingelt ein Glöckchen. Die Kinder springen auf und setzten sich um den runden Teppich, der in der Mitte des Raumes liegt. Sie sollen gemeinsam überlegen, wie sie die richtig angeordneten Schnipsel am besten aufkleben. Neben der Lehrerin stehen ihnen dafür eine Referendarin und eine Erzieherin zur Seite. »Manchmal sind wir hier zu viele«, sagt Sonja Matschke, die nicht Klassenlehrerin heißt, sondern ›Leiterin der Lerngruppe‹. Sie lacht.

Hier, in der Schule im Märkischen Viertel, gibt es diese weitläufigen, offenen und einladenden Etagen ohne Wände schon seit über zehn Jahren. Es ist ein Raum, wie ihn gerade auch die AG Schulraumqualität konzipiert, die Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) einberufen hat, um die Lernqualität in Neubauten zu verbessern. Man orientiert sich am sogenannten Münchner Lernhausmodell, doch: »Im Grunde haben die das hier abgekupfert«, sagt Nuri Kiefer, seit 2013 Leiter der Hannah Höch ist, einer Gemeinschaftsschule. Sie ist eine von 25 Schulen in Berlin, die in ihrer Form noch sehr neu ist, kaum bekannt und trotzdem zu hitzigen Diskussionen anregt.

Kaum eine Debatte war im vergangenen Wahlkampf so aufgeladen wie die über den Ausbau der Gemeinschaftsschule. In ihrem Wahlprogramm schrieb die CDU: »Eine Privilegierung dieser Schulform wird es mit uns nicht geben.« Die AfD nannte die Gemeinschaftsschule gar nicht erst beim Namen, redete lieber von »Einheitsschule« und »Einheitslehrer«. Die FDP ließ die Schulform sogar ganz unter den Tisch fallen und beklagte stattdessen das »Ausbluten der Gymnasien«.

Kiefer, der zudem für den Schulbereich der Bildungsgewerkschaft GEW zuständig ist, nennt diesen Diskurs »die DDR-Sozialismus-Einheitsschul-Keule«. Dabei zeigt gerade ein Rundgang durch seine Schule, dass Kinder individuell gefördert werden. In einem Raum sitzt eine kleine Gruppe von Schülern im Kreis auf dem Boden, mit zwei Sozialarbeitern ins Gespräch vertieft. Es sind Kinder, die sich nicht länger als zwei Stunden auf den Unterricht in der Klasse konzentrieren können. In einem Werkraum sitzen Schüler an einem großen Tisch und essen. Sie haben kaum Aussicht auf einen Abschluss, stattdessen sollen sie lernen, alltägliche Aufgaben wie kochen geregelt zu bekommen. »Wir sind das genaue Gegenteil einer Einheitsschule«, sagt Kiefer.

Durch individuelle Förderung und gemeinschaftliches Lernen, so die Idee der Gemeinschaftsschule, soll die Bildungsgerechtigkeit erhöht werden. Denn genau das ist es, was die PISA-Studie Deutschland immer wieder ankreidet: dass das gegliederte Schulwesen Bildungschancen nach sozialer Herkunft verteilt.

Der rot-rote Senat startete im Schuljahr 2008/2009 ein Pilotprojekt, zunächst mit 15 Gemeinschaftsschulen. Mit diesem Vorstoß war Berlin das zweite Bundesland, bis heute gibt es die Schulform in sechs weiteren Bundesländern. Rot-Rot-Grün will die Gemeinschaftsschule nun weiter stärken, so steht es im Koalitionsvertrag. Als Regelschulart soll sie Eingang ins Schulsystem erhalten - bisher gilt sie nur als Schulversuch. Beim massiven Schulneubau, der jetzt ansteht, soll sie bevorzugt werden. Kiefer findet: »Das ist ein wichtiger Schritt, aber mir fehlt die Ausbauperspektive.« Denn anders als bei der Inklusion, die jährlich mit sechs weiteren Schulen gestärkt werden soll, steht für die Gemeinschaftsschule keine Zahl im Koalitionsvertrag.

Und das, obwohl der Erfolg ihr Recht gibt. Im April veröffentlichten Hamburger Bildungswissenschaftler die Ergebnisse ihrer Evaluation der Pilotphase. Und straften die Gegner der Gemeinschaftsschule Lügen: Denn alle Schüler erzielten messbar größere Lernfortschritte als an traditionell gegliederten Vergleichsschulen in Hamburg. Zudem schnitten die Gemeinschaftsschüler auch in Mathe und Naturwissenschaften deutlich besser ab als noch vor einigen Jahren. Bedeutsam sei, so die Macher, dass die Lernzuwächse gerade an Gemeinschaftsschulen in sozialen Brennpunkten besonders hoch seien. Sie nannten hohen Migrationsanteil und geringes Bildungsniveau als Faktor.

»Das Märkische Viertel ist kein migrantisches Viertel, aber ein sehr armes Viertel«, sagt Kiefer. 65 bis 75 Prozent der Kinder müssten für ihre Lernmittel nichts zahlen. »Gemeinschaftsschule kann da ausgleichend wirken.« In der Praxis funktioniert das so: Bis Stufe neun lernen die Kinder jahrgangsübergreifend, die Lehrer müssen davon ausgehen, dass sie keiner homogenen Gruppe gegenüber stehen. Bis zur achten Klasse gibt es keine Noten. In selbstentworfenen Lernheften notiert man gemeinsam jede Woche neue Lernziele. Zweimal im Jahr kommen die Eltern zum Gespräch. Mit einigem Erfolg: 2014 schafften lediglich 2,5 Prozent den Mittleren Schulabschluss, 2016 waren es bereits 48 Prozent. 2014 hatten 38 Prozent die Schule ohne Abschluss verlassen, 2016 waren es nur noch sieben Prozent.

Doch der Effekt der Chancengerechtigkeit gilt nicht für jede Gemeinschaftsschule. So erzählen Eltern der Heinrich-von-Stephan-Schule in Moabit sowie der Wilhelm-von-Humboldt-Schule im Prenzlauer Berg, die hier nicht namentlich genannt werden wollen, dass die Schulen ihrer Kinder zu besseren Gymnasien geworden sind: Hier seien nur noch Kinder des Bildungsbürgertums anzutreffen. Andere Schulen, wie die Carl-von-Ossietzky-Schule und die Lina-von-Morgenstern-Schule in Kreuzberg haben einen Migrationsanteil von bis zu 80 Prozent. Eine Konzentration, die sich selbst in einer Bevölkerungsstruktur wie dem Wedding nicht wiederfindet.

Der Effekt: Gemeinschaftsschulen mit eigenem gymnasialen Oberzweig werden teilweise stärker nachgefragt als Gymnasien selbst, an Gemeinschaftsschulen wie Hannah Höch, melden Eltern ihre Kinder zur siebten Klasse ab, wenn sie wollen, dass diese später einmal studieren. Das ist hier bei zwei von drei Schülern der Fall. »Eltern denken, das ist eine Brennpunkt-Hauptschule hier«, sagt Kiefer.

Im Koalitionsvertrag heißt es, man wolle prüfen, welche Kooperationsmöglichkeiten es mit Gymnasien und Oberstufenzentren gebe. »Ich hätte mir das konkreter und verbindlicher gewünscht«, sagt Kiefer. Es sei »lebensnotwenig«, eine gymnasiale Oberstufe vor Ort zu haben, notfalls mit reduziertem Leistungskurs-Angebot.

Der Weg zum Bus führt vom Gebäude der Grundschule über die Werkstatt- und Turnhalle zur Sekundarstufe. Fenster sind eingeschlagen, der Putz hängt in Fetzen von der Fassade, die Halle ist seit Sommer geschlossen, weil es durch das Dach geregnet hat. Kiefer beziffert den Sanierungsbedarf auf zehn Millionen Euro. Schnell wird klar, dass neben der fehlenden gymnasialen Oberstufe auch der bauliche Zustand ein Grund für die ausbleibenden Anmeldungen ist. Das liege auch am Bezirk, sagt Kiefer. Reinickendorf ist CDU-regiert, diese opponiere gegen die Gemeinschaftsschule. Er fordert Senatorin Scheeres deshalb auf, die Gemeinschaftsschulen unter Zentralverwaltung zu stellen: »Wie einen Zögling, den man schützen muss.«

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