Reformbauten und Plattenpioniere in Lichtenberg
Ein Architekturführer zeigt die große Bandbreite der modernen Stadt im Ost-Berliner Bezirk
Lichtenberg – das ist nicht unbedingt der erste Berliner Bezirk, der einem unter dem Stichwort »schön« einfällt – da kommen einem Berlins Südosten oder Südwesten mit viel Wasser und Wiesen eher in den Sinn, drängelt sich Mitte mit seinen Repräsentationsbauten vor. Auch der Zusammenschluss mit Hohenschönhausen 2001 hat den neuen Großbezirk unter diesem Gesichtspunkt nicht wirklich nach vorne katapultiert. Also alles nur Platte und Industrie? Lichtenberg hat architektonisch viel mehr zu bieten, auch wenn die Stichwörter nicht ganz falsch sind. Ein neu erschienener Architekturführer zeigt die manchmal etwas verborgene Schönheit des Bezirks auf – vor allem aber zeigt er, welche wahren Pionierleistungen hier vollbracht wurden und nun auf ihre (Neu)-Entdeckung warten.
»Die moderne Stadt Berlin-Lichtenberg« – der Titel zeigt schon auf, wohin die Führung geht. Das handliche Buch eignet sich hervorragend für eigene Streifzüge durch den Bezirk, zu Fuß oder auf dem Rad. Dabei ist es aufgrund seiner inhaltlichen Fülle viel mehr als ein Stadtführer. Insgesamt 99 Bauten oder Bauensembles werden auf jeweils einer oder zwei Seiten faktenreich vorgestellt, ohne den Leser mit Daten zu erschlagen. Den thematisch gegliederten Kapiteln ist jeweils eine Einleitung vorangestellt. So werden nacheinander etwa Industrie-, Verkehrs-, Schul-, Kultur- oder Sportbauten vorgestellt, aber auch Militärbauten wie in Karlshorst.
Einen Schwerpunkt haben die Autoren, zu denen auch Bruno Flierl, Katrin Lompscher und viele weitere Experten und Wissenschaftler gehören, auf die »moderne Stadt« gelegt – Lichtenberg war auch Labor und Experimentierfeld, wenn es darum ging, gleichzeitig ökonomisch und sozial zu bauen. Angefangen mit den Reformbauten, die Licht, Luft und Sonne für die Bewohner zum Teil des Lebens machen sollten. In Lichtenberg finden sich einige Wohnanlagen dieser Art, etwa die Waldsiedlung Karlshorst von Peter Behrens.
Was den Bezirk bis heute in der Außenwirkung am stärksten prägt, sind die Großsiedlungsprojekte und das industrielle Bauen, mit denen die DDR die grassierende Wohnungsnot ziemlich erfolgreich zu lindern versuchte. Auch heute leben rund 70 Prozent der Einwohner des Bezirks Lichtenberg-Hohenschönhausen in den zwischen 1962 und 1990 fertiggestellten »Platten« – dabei schwingt oft ein abfälliger Ton mit: Monotonie, aber ohne Flair der Südsee. Aber Klischees lösen sich bei näherer Betrachtung oft in Luft auf – die industriell gefertigten Wohnkomplexe im Bezirk sind alles andere als einförmig. Und waren oft Vorreiter: Im Bezirk finden sich die ersten Bauten in Blockbauweise, hier wurden die ersten Häuser der Typen P2 und Q3A gebaut und sind auch noch zu besichtigen. Die ersten WBS 70 finden sich ebenso an der Möllendorffstraße wie das erste Großsiedlungsprojekt für 50 000 Bewohner am Fennpfuhl, das vieles vorwegnahm, was später in Marzahn und Hellersdorf, aber auch in Leipzig-Grünau oder Jena-Lobeda entstand.
Ein Tipp des Rezensenten sei hinzugefügt: Die gesamte Geschichte des DDR-Plattenbaus lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes erfahren: Mit der Straßenbahnlinie M 13 in Richtung Warschauer Straße beginnend an der Gounodstraße, wo noch knapp in Weißensee die Q3A-Bauten dominieren, zum Fennpfuhl, ab dort entlang von WBS 70 bis hin zur Siedlung Frankfurter Allee Süd lässt man in knapp 20 Minuten fast alle gängigen Typen an sich vorbeiziehen.
Das Buch, das sich gleichermaßen an Fachpublikum und Laien wendet, überzeugt auf ganzer Linie – auch weil die Texte die Bauten immer in einen sozialen Kontext zu setzen wissen. Zur Geschichte des Stadions Lichtenberg gehören eben nicht nur Angaben zum Bau – sondern auch der Fakt, dass dort am 20. Mai 1945, ganze zwölf Tage nach Kriegsende, das erste Fußballspiel in der befreiten Stadt stattfand. Zwischen Rotarmisten und befreiten Zwangsarbeitern.
Für Außenstehende bietet sich ein Blick in einen vielfältigen und spannenden Bezirk Berlins, auch Bewohner und Ureinwohner können ihr Lichtenberg oder ihr Hohenschönhausen mit ganz neuem Blick entdecken. Größer kann ein Kompliment für einen Architekturführer, der auch Stadtführer sein will, kaum sein.
Die moderne Stadt Berlin-Lichtenberg – Ein Architekturführer. Steffen Maria Strietzel, Thomas Thiele, Dirk Moldt (Hg.). Berlin Story Verlag, 192 S., br., 16,95 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.