Der IS fährt Erdogans Ernte ein

Islamisten profitieren vom konservativen Rollback der türkischen Regierung

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein Novum: Erstmals hat sich der Islamische Staat (IS) offen zu einem Anschlag in der Türkei bekannt. Frühere Anschläge, zum Beispiel ein Anschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara, bei dem am 10. Oktober 2015 104 Menschen starben, konnten ihm zwar nachgewiesen werden, aber bekannt hat sich der IS dazu nie.

Die Erklärung zum Anschlag auf den Nachtclub Reina am Neujahrsmorgen wird von drei Bildern begleitet. Im mittleren Bild ist ein Mann in orientalischer Kleidung mit einer Kalaschnikow zu sehen, der von Asien aus auf die Bosporus-Brücke zuschreitet, unter der der Nachtclub liegt, in dem ein Attentäter mindestens 39 Menschen ermordete und 65 verletzte. Darüber ist ein Soldat mit einem Gewehr auf einem Steg zu sehen, der zum Tor der Istanbul Universität führt. Über dem Tor ist eine abgebrochene Fahne der türkischen Republik zu sehen. Das dritte Bild zeigt die Ruinen von Ephesos an der türkischen Ägäis-Küste und zwei Hände, die eine Lunte anzünden.

Das bedenklichste ist das Bild mit der Universität, nicht nur weil es ein mögliches Anschlagsziel verrät, sondern weil es generell eine Richtung vorgibt: Zerschlagt die Symbole der laizistischen Türkischen Republik und ihr Bildungssystem. Das verstärkt die Ängste vieler Türken, dass das eigentliche Ziel ihre westliche Lebensweise ist und dass der IS nur ein Teil dieses Problems ist.

Der Kolumnist Tayfun Atay meint, er sei nahe daran, seinen Stift gegen die Mattscheibe zu schleudern, wenn er nun im Fernsehen nach dem Massaker im Reina wieder die alten Analysen höre »Faktor Syrien«, »Spiel fremder Mächte«, »imperialistisches Komplott« etc. Das alles habe man schon bei den Gezi-Protesten 2013 gehört, als Tausende gegen die Bebauung des Gezi-Parks demonstrierten. In Wirklichkeit seien die Proteste der »Hilferuf der laizistischen Identität« gewesen. Der Ruf sei nicht gehört worden und nun habe es ein Massaker gegeben.

Das sind bittere Worte, aber sie sind nicht ganz ohne Grund gesagt. 2016 hat es in der Türkei eine regelrechte Kampagne gegen Weihnachten und das in der Türkei wichtigere Neujahrsfest gegeben. Flugblätter wurden verteilt, Plakate aufgehängt, auf denen ein bärtiger Mann einem Weihnachtsmann einen Kinnhaken versetzt. In Aydin inszenierten Mitglieder eines reaktionären Klubs eine Show, bei der drei Männer in Trachtenkleidung gegen einen Weihnachtsmann vorgehen und ihm eine Pistole an den Kopf halten. In einer vom Amt für Religionsangelegen herausgegebenen Predigt wurden die Neujahrsfeierlichkeiten als »illegitimes Verhalten« und als »Sünde« bezeichnet. Die »Milli Gazete« erschien am 31. Dezember mit der Überschrift: »Letzte Warnung: feiert nicht!« auf ihrer Titelseite, also am Tag vor dem Mord.

Während man in der Türkei sonst sehr rasch dabei ist, Verfahren wegen Aufstachelung zum Hass einzuleiten, blieb das alles folgenlos. Geschürt werde so etwas wie ein »Kampf der Kulturen«, meint Ceyda Karan in ihrer Kolumne in der »Cumhuriyet«. Dabei stimme das doch alles nicht, »wir sind doch alle mit dem Weihnachtsmann aufgewachsen«, wer einem Weihnachtsmann eine Pistole an den Kopf halte und dann meine, er sei »bodenständig und national«, der befände sich nicht wirklich in der Türkei.

Aber die Bemühungen, das zu ändern, sind unverkennbar. Und wie bei allen solchen Kulturkämpfen ermöglicht das radikaleren Kräften, sich einzuschalten. Der IS scheint seine Chance in der Türkei erkannt zu haben. Indem er sich nun offen zu seinem Vorgehen bekennt, will er sich frech und blutig an die Spitze eines konservativen Rollbacks setzen. Der Geist ist aus der Flasche und man wird ihn nicht so leicht wieder einfangen. Darüber kann auch nicht die Meldung hinwegtäuschen, dass die türkische Polizei acht Verdächtige festgenommen hat. Sie stünden im Zusammenhang mit dem Angriff in der Silvesternacht, meldete die Nachrichtenagentur DHA am Montag, ohne weitere Details zu nennen. Der Täter - die Behörden gehen von einem Einzeltäter aus - ist weiter auf der Flucht. Die Polizei hat eine groß angelegte Fahndung gestartet.

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