Terror als Terrorrechtfertigung

Ausnahmezustand soll Schwäche des türkischen Sicherheitsapparates kaschieren

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Das türkische Parlament hat mit den Stimmen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung und der Partei der Nationalistischen Bewegung den Ausnahmezustand in der Türkei um weitere drei Monate verlängert. Erstmals war er nach dem Putschversuch im Juli für drei Monate verhängt und im Oktober um drei Monate verlängert worden.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vergleicht den Ausnahmezustand, gerne mit der gleichen Maßnahme, die sein französischer Amtskollege François Hollande nach den Attentaten in Paris im November 2015 ausgerufen hatte und die seither ebenfalls mehrfach verlängert wurde. Die Erweiterung der rechtlichen Befugnisse und deren exzessive Anwendung in der Türkei gehen aber erheblich weiter als in Frankreich.

Dies zeigt unter anderem ein Blick auf folgende Zahlen: Seit Verhängung des Ausnahmezustandes im Juli wurden 41.000 in der Türkei Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Darunter befinden sich zwölf Parlamentsabgeordnete der kurdisch-linken Demokratischen Partei (HDP) der Völker, inklusive der Parteiführer und zahlreiche Bürgermeister der HDP. Ferner wurden 144 Journalisten inhaftiert und 177 Medienunternehmen wie Fernsehstationen, Nachrichtenagenturen und Zeitungen verboten. 2500 Journalisten wurden arbeitslos. 87.000 Personen wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen und 35.000 suspendiert. Am stärksten betroffen sind Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Lehrer und Offiziere.

Man kann schwerlich sagen, dass der Ausnahmezustand die Türkei sicherer gemacht hat. Seit Beginn gab es dreizehn Terroranschläge, bei denen 204 Menschen starben, mehr als die Hälfte davon im Dezember und in der Silvesternacht. Der russische Botschafter wurde mitten in Ankara von einem Polizisten erschossen, der durch alle Netze der Säuberungen gefallen war.

Um die Schwäche des Sicherheitsapparates zu erklären und politische Fehler zu vertuschen, sind Verschwörungstheorien schnell bei der Hand. Der Journalist Özgür Mumcu erklärt dies an folgendem Beispiel: Als ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen wurde, sagte Erdogan, »notfalls werden wir noch einmal zuschlagen«. Der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ließ sich zitieren mit: »Ich habe den Befehl gegeben«. Nun soll plötzlich die Gülen-Sekte für den Abschuss verantwortlich sein wie auch für den Mord an dem Botschafter.

Die größte türkische Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), hat eine andere Erklärung für den wachsenden Terror. Ihr Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu sagt, die Lastwagen mit Waffen, die an den Islamischen Staat gegangen seien, die kämen jetzt eben zurück. Auch der CHP-Parlamentsabgeordnete Sezgin Tanrikulu rügt die erneute Verlängerung des Ausnahmezustands. Die Gesetzeslage biete auch ohne die Notstandsregelungen ausreichend Möglichkeiten, um den Terror zu bekämpfen, sagte er am Mittwoch gegenüber dpa.

Der Terror und die Unfähigkeit des Staates, auf die wirklichen Probleme zu reagieren, drückt auf die Stimmung, und das schadet auch der Wirtschaft. Der Vertrauensindex der türkischen Wirtschaft ist von November auf Dezember um fast 20 Prozent eingebrochen. Der Dollarkurs gegenüber der Türkischen Lira erklimmt eine Rekordmarke nach der anderen. Die Türken spüren das sofort, denn viele Mieten sind in Dollar oder Euro ausgemacht. Hypotheken müssen häufig in Dollar oder Schweizer Franken bedient werden. Über die hohen Auslandsschulden von Banken und Wirtschaftsunternehmen trifft der Dollarkurs mittelfristig alle. Die Jahresinflation ist bereits auf 8,5 Prozent gestiegen. In der Tourismusbranche richtet man sich wegen des Terrors auf ein neues Horrorjahr ein.

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