Kasachstan - eine Brücke von Peking bis Berlin

Bulat Sultanov über Zentralasiens Zukunft, Lehren aus der ukrainischen Entwicklung und seinen Glauben an Alternativen

  • Lesedauer: 9 Min.

Das Jahr 2017 bringt ein Jubiläum - 100 Jahre Oktoberrevolution. Kasachstan war mit seinem großen Nachbarn Russland in der Sowjetunion lange verbunden. Wie ist das Verhältnis heute?
Am 16. Dezember begingen wir das 25-jährige Jubiläum unserer Republik Kasachstan. Das ist das eine. Aber man muss auch daran erinnern, was vorher geschah. Wenn wir über die heutige Entwicklung der Republik Kasachstan sprechen, dann waren die Jahre 1917 bis 1991 keine weißen Blätter. Unsere Mütter und unsere Großmütter, unsere Väter und Großväter haben viel und hart gearbeitet. Die Grundlagen für die heutige Entwicklung wurden in der Sowjetunion geschaffen.

Kasachstan hat ja auch einen Präsidenten, der in der Sowjetzeit an der Spitze des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei stand.
Er war 1. Sekretär, einen Generalsekretär gab es nur in Moskau. Nursultan Nasarbajew war zum Ende der Sowjetunion Mitglied des Politbüros der KPdSU wie Islam Karimow aus Usbekistan und andere Kommunisten der mittelasiatischen Republiken.

Bulat Sultanov

Prof. Dr. Bulat Sultanov, geboren 1951, ist Direktor des Instituts für internationale und regionale Kooperation der Deutsch-Kasachischen Universität in Almaty. Im Jahre 1993 wurde er Leiter der Europa-Abteilung im Außenministerium Kasachstans. Von 2005 bis 2014 leitete er als Direktor das Institut für Strategische Studien beim Präsidenten der Republik Kasachstan. Am Rande eines Besuches des Historikers bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Zeitschrift WeltTrends sprach mit dem Historiker in Berlin Klaus Joachim Herrmann.
 

Verbunden sind sie immer noch?
Die Antwort gibt die Geografie: Kasachstan und Zentralasien befinden sich in einem Dreieck, das gebildet wird von Russland, China und der islamischen Welt. Mit diesen drei Partnern sollten wir gute Beziehungen pflegen. Kasachstan hat eine gemeinsame Grenze mit Russland und China. Kirgisistan hat eine Grenze mit China, nicht mit Russland. Usbekistan hat keine Grenzen mit China und mit Russland. Turkmenistan grenzt an Iran und Afghanistan; Tadschikistan an China und Afghanistan. Das ist die Lage. Wir streben nach Westen zur EU und nach Deutschland. Dahin kommen wir durch Russland, durch das Kaspische Meer oder Irak.

Eine Politik im Transit?
Eine Linie mit vier Punkten: Berlin, Moskau, Astana, Peking. Unsere Republik möchte eine Brücke zwischen West und Ost sein. Allerdings läuft ein neues geopolitisches Spiel. China will sich gegen eine mögliche Blockade der USA absichern. Es sucht einen Hinterausgang nach Europa und nach Südosten.

Sie stecken also zwischen den Vetomächten, jetzt auch zwei Jahre im Sicherheitsrat. Wollen Sie dort ein Mittler sein?
Kasachstan ist ab 2017 zwei Jahre lang ein Nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates der UNO. Wir möchten daran arbeiten, die Achtung der ganzen Welt gegenüber unserer Region zu vergrößern. Eben darum ist es für uns so wichtig, dass Zentralasien keine Mauer, sondern eine Brücke im Interesse des gemeinsamen Marktes sein sollte. Wir möchten die Geschichte der Ukraine nicht wiederholen.

Die Ukraine ist ein Riegel geworden zwischen Russland und Europa. Kann Kasachstan verhindern, dass so etwas gegenüber China auch passiert.
Man muss die Stereotype überwinden, neue Ideen anregen. Ich fahre mit einem Freund Auto, die Navigation zeigt nach rechts. Aber plötzlich ist dort eine Baustelle. Man muss also einen Umweg fahren. Aber diese nette Frauenstimme sagt: »Bitte nach rechts abbiegen!« Was bedeutet das? Das bedeutet, dass alte Methoden zum gegenwärtigen Augenblick nicht passen. Man muss jetzt anders denken - und etwas unternehmen.

Zur Ukraine: Im Februar 2014 hat der deutsche Außenminister Herr Steinmeier gemeinsam mit seinen Kollegen aus Frankreich und Polen mit dem ukrainischen Präsidenten Janukowitsch eine Vereinbarung unterzeichnet, dass im Dezember ein friedlicher Übergang der Macht stattfinden soll. Das hat Herr Steinmeier unterschrieben, der wahrscheinlich im Frühjahr deutscher Bundespräsident wird.

Aber nicht deswegen.
Natürlich nicht. Aber wenn sie etwas unterzeichnen, dann übernehmen sie Verantwortung. Der friedliche Übergang der Macht hätte bedeutet, die Ukraine wird eine Brücke zwischen Eurasischer Wirtschaftsunion, zwischen Russland, Europäischer Union und Deutschland. Aber plötzlich passiert etwas ganz anderes.

Wer war interessiert an einem gewaltsamen Machtwechsel - nicht Europa, nicht Russland. Der Putsch war ein Mittel, aber das Ziel war die Errichtung einer Mauer zwischen Europäischer Union und Russland sowie der Eurasischen Wirtschaftsunion. Die Ukraine hätte nach dem Beispiel Finnlands eine Brücke sein können. Doch stattdessen entstand eine Mauer. Für Europa ist das schlecht, für Russland ist das schlecht und es ist auch nicht gut für die EU. Kasachstan darf diesen Fehler nicht wiederholen.

Kasachstan ist zu groß, um eine Schweiz zu sein. Das heißt, es muss eine aktive Rolle spielen und trotzdem mit allen gut auskommen.
Wir verzeichnen eine wachsende Konkurrenz zwischen den USA und dem Westen auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen. Die USA versuchen bislang, Differenzen zwischen Russland und China zu verschärfen, wie auch solche von Russland und China mit der islamischen Welt. Die zentralasiatischen Staaten dürfen nicht zulassen, dass in der Region das Szenario eines hybriden Krieges zum Tragen kommt, dessen Ziel die Schaffung einer Trennlinie zwischen Russland und China wäre.

Als ich 1990 nach Bonn gekommen bin, habe ich mich mit den Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Geschäftsleuten getroffen. Als ich fragte, warum sie nicht in unsere Erdölförderung investieren, antworteten sie, amerikanische Wissenschaftler hätten gesagt, dass im Kaspischen Meer und an dessen Küste kein Öl sei. Aber die Amerikaner selbst arbeiteten intensiv an der Erschließung des Erdöls in Kasachstan seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Kann man den Amerikanern glauben? Da hat jemand in Washington angerufen und dort hieß es: kein Interesse. Die Europäische Union und Deutschland sollten aber den eigenen Interessen folgen und nicht den US-amerikanischen.

Kasachstan befindet sich in einer unruhigen Region und ist auf Ruhe bedacht. Ihr Präsident gilt als streng, im Westen als autoritär. Wie soll oder wie kann es mit einer Demokratisierung weitergehen?
Die westliche Strategie im Nahen Osten, in Tunesien, in Syrien, in Ägypten, in Irak, in Afghanistan hat besonders den Völkern der islamischen Welt gezeigt, dass die westlichen Demokratievarianten hier nicht erfolgreich sind. Diese Staaten sind weder kapitalistisch noch sozialistisch, sie befinden sich zwischen Feudalismus und Kapitalismus. Auf eine westliche Demokratie sind die Menschen nicht vorbereitet.

Natürlich war Saddam Hussein ein Diktator. Aber statt unter solchen autoritären Führern leiden diese Länder jetzt unter Bürgerkriegen. Großmächte wie China und Russland haben eine staatliche Struktur der Wirtschaftsführung - und autoritäre Präsidenten. Wir leben besser mit starken Präsidenten und mit stark zen-tralisierten Strukturen der Macht. Zentralasien befindet sich in einer Transformations- und Übergangszeit. Wir streben zur westlichen Demokratie, brauchen aber noch Zeit. Man muss langsam, Schritt für Schritt und vorsichtig zu westlichen Demokratiemodellen kommen.

Aber gerade im Westen suchen Hunderttausende eine Zukunft.
Doch westliche Methoden wurden besonders in der islamischen Welt aufs Äußerste kompromittiert durch die Kriege in diesen Ländern. Die Staaten wurden ruiniert. Jetzt kommen Flüchtlinge nach Deutschland, sollen sich integrieren. Das möchte die Mehrheit wahrscheinlich auch. Aber viele Asylbewerber denken, wir kommen nach Westeuropa, das uns bombardiert und ruiniert hat. Es kommen auch Hitzköpfe allein mit Rache im Herzen. Sie möchten nur Rache, Rache und Rache.

Ein Mann aus der Ostukraine erzählte, er habe an den Kriegen nicht teilgenommen. Seine Frau sei Ukrainerin, er Russe, sie hatten Arbeit, zwei Kinder. Während er in der Küche das Essen bereitet und die Kinder baden, schlägt eine Granate ein. Beide Kinder sind tot, die Frau verliert einen Fuß und eine Hand, ist schwer krank. Er sagt: Ich sehe keinen Sinn mehr in diesem Leben, ich möchte nur Rache. An wem? An allen!

Jetzt kommen nach Europa, nach Deutschland Hunderttausende Menschen. Wahrscheinlich gibt es unter ihnen solche Rächer. NATO-Staaten haben ihre Moscheen vernichtet, ihre Religion diskreditiert. Das ist sehr gefährlich. Sie suchen nicht nur für ihre Familien Rache, sondern für die Religion. Weil sie nach ihrem Glauben einen Platz im Paradies bekommen, haben sie keine Angst vor dem Tod.

Welche Gefahren, welche Konflikte muss Kasachstan fürchten?
Die Kasachen sind empört über soziale und wirtschaftliche Probleme. Die Preise steigen, das Studium muss bezahlt werden. Kostenlose Bildung gibt es nur in der Schule. Wer das Geld hat, gibt seine Kinder in amerikanische oder englische Privatschulen. Unsere Ärzte arbeiten nach europäischen Methoden. Arzneien in unseren Apotheken sind nach Lizenzen aus Deutschland und der Schweiz in Slowenien oder Litauen hergestellt und teuer. Doch die Kaufkraft des Tenge sinkt und die Unterschiede wachsen: Ein Lehrer bekommt monatlich 60 000 Tenge (170 Euro), der Minister für Bildung 600 000 Tenge. Unternehmer haben noch viel mehr.

Würden Sie sagen, dass solche Unterschiede das eigentliche explosive Problem sind?
Nicht explosiv, aber ein sehr kompliziertes Problem. Ich habe schon mehrfach vorgeschlagen, wir sollten nach norwegischem Muster vorgehen. Der Unterschied zwischen der Lehrerin und dem Minister darf nicht größer als das Dreifache sein. Die Lehrerin bekommt 60 000 und der Minister soll 180 000 Tenge (508 Euro) und nicht mehr erhalten.

Das wäre etwas für die Gewerkschaften. Human Rights Watch hat aber gerade von einem »feindlichen Klima« für Gewerkschafter berichtet.
Wir müssen uns der Traditionen der Arbeiterklasse, der Arbeiterbewegung in Deutschland, in Russland, in der Sowjetunion besinnen. Auf Seiten der Arbeitgeber steht die Macht des ganzen Staates. Die Unternehmer sind Töchter und Söhne der politisch Mächtigen. Die Arbeitnehmer sind schutzlos. Das ist in allen postsowjetischen Staaten so. Wir haben ein staatskapitalistisches System und keine linken Organisationen, keine linken Parteien. Bei uns gibt es Parteien der Macht - und wir haben autoritäre Präsidenten.

Darum interessiere ich mich für die Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Wir benötigen Organisationen, die die Interessen der Arbeitnehmer schützen. Wir brauchen politische Bildung und eine Zeitung wie »neues deutschland«. Das ermöglicht, andere Meinungen zu hören.

Die staatliche Propaganda in Usbekistan verkündete täglich, wenn Herr Karimow seinen Posten verlassen würde, dann kämen Aufstände, zwischenethnische Konflikte würden aufbrechen und alle hatten Angst. Am 2. September ist er gestorben - und...? In Kasachstan besteht eine ähnliche Situation wie in Deutschland. Zu hören ist, es gebe keine Alternative zu Präsident Nasarbajew, in Deutschland keine zu Kanzlerin Merkel. Ich glaube das nicht. In Deutschland gibt es viele kluge Politiker. Ich glaube nicht, dass es in Usbekistan, Kasachstan und Deutschland keine Alternativen zu den heutigen Führungen gibt.

WeltTrends. Das außenpolitische Journal, widmete dem Thema »Zentralasien - 25 Jahre Unabhängigkeit« in seiner Novemberausgabe den Schwerpunkt.

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