Rot-Rot-Grün zieht vor Gericht
Thüringens Regierung will rechtliche Bedenken gegen Volksbegehren prüfen lassen
Erfurt. Thüringens rot-rot-grüne Landesregierung will noch in dieser Woche das Verfassungsgericht anrufen, um die Rechtmäßigkeit des Volksbegehrens gegen die Gebietsreform zu klären. Diese Entscheidung sei nach einem entsprechenden Votum des Koalitionsausschusses am Dienstag im Kabinett gefallen, sagte Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE) in Erfurt. Wenn Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Volksbegehrens bestünden, habe die Regierung keinen Ermessensspielraum, sie müsste den Verfassungsgerichtshof einschalten. »Ich habe einen Amtseid auf die Verfassung geleistet«, so Ramelow.
Gleichzeitig kündigte er Gespräche mit den Initiatoren des Volksbegehrens an und signalisierte Kompromissbereitschaft zu Detailregelungen im Gesetz zur Gebietsreform. Nach der Thüringer Verfassung sind Volksbegehren nicht zulässig, wenn sie Haushaltsentscheidungen des Landtags angreifen. Das Gesetz sieht Zahlungen von 155 Millionen Euro an Gemeinden vor.
Derweil wird im Freistaat um das zentrale Argument für die Gebietsreform gestritten: Die Thüringer werden weniger. Kommunalpolitiker bezweifeln die entsprechende Prognose der Statistiker öffentlich, das Statistische Landesamt verteidigt seine Berechnungen. Er habe keinerlei Verständnis dafür, wenn Kommunalpolitiker »ein knallhartes Rechenmodell« anzweifelten, sagte der Präsident des Amtes, Günter Krombholz. Die Berechnungen seien »kein Hexenwerk«. »Aber wenn jemand das natürlich nicht verstehen will, dann habe ich ein Problem.«
Thüringen hat derzeit etwa 2,17 Millionen Einwohner. Nach der Prognose des Landesamtes werden 2030 nur noch etwa 1,95 Millionen Menschen im Freistaat leben, fünf Jahre später nur noch etwa 1,88 Millionen Menschen. 2015 wurden jedoch so viele Kinder wie seit 1990 nicht mehr geboren: 17 934.
Zuletzt hatte etwa die Präsidentin des Thüringischen Landkreistages, Martina Schweinsburg (CDU), angezweifelt, dass die Prognose des Landesamtes zutreffend sei. Sie bezeichnete die Hochrechnung als »Blick in die demografische Kristallkugel«. Auch andere Kommunalpolitiker argumentierten mit Blick auf die Flüchtlingszahlen, es passe nicht zu der Vorausberechnung des Landesamtes, dass vielerorts im Land wieder mehr Kindergärten und Schulen neu gebaut werden müssten.
Nach Angaben von Krombholz ändert die Tatsache, dass hier und da wieder mehr Kinder als in den vergangenen Jahren zur Welt kommen, nichts an der erwarteten Bevölkerungsentwicklung. Ebenso verhalte es sich mit der seit Mitte 2015 hohen Zahl von Flüchtlingen. In der Vorausberechnung seien bereits ein Anstieg der Geburtenrate und der Zuzug von Ausländern einbezogen.
»Der entscheidende Punkt ist die Altersstruktur der Thüringer«, sagte er. Um das Jahr 2035 herum würden viele sogenannten Babyboomer sterben. Sie gehören zur Generation, die nach 1950 geboren wurden. Zudem sei nach der Wende eine halbe Müttergeneration aus Thüringen abgewandert. Deshalb werde es in Thüringen um das Jahr 2035 herum einen so massiven Sterbeüberschuss geben. »Da nützen mir 100 Geburten mehr in einer Stadt überhaupt nichts«, stellte Krombholz klar.
Die zurückgehende Bevölkerungszahl in Thüringen ist das Hauptargument für die geplante Verwaltungs-, Funktional- und Gebietsreform. Deren Befürworter argumentieren, wenn es weniger Thüringer gebe, müssten sich auch Strukturen und Verwaltungen ändern. dpa/nd
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