Sehnsucht nach den großen Geschichten

Immer mehr Romane finden den Weg auf die Theaterbühne. Ist das nun gut oder schlecht?

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 6 Min.

Lange vorher wurde sie schon angekündigt, die Neuverfilmung von Hans Falladas großem Roman »Jeder stirbt für sich allein«. Ein Buch, in dem der todkranke Schriftsteller die Banalität des Bösen während der Nazizeit so illusionszerschmetternd zu Kunst machte, wie es seitdem keinem anderen gelungen ist. Mögen die Kritiker das Werk während der Berlinale noch so sehr verrissen haben, der Vorfreude der Fallada-Fans auf den offiziellen Kinostart im Spätherbst 2016 tat das keinen Abbruch. Während der Film dann über die Leinwand flimmerte, machte sich bei vielen ein Unbehagen breit - über die fehlenden Schlüsselszenen, über dieses bonbonfarbene Freizeitpark-Setting und über die schwülstigen Melodien, die eher einem schönen Schwank angemessen wären als einem schmerzend realistischen Drama. Und so stellte sie sich am Ende doch ein, die Enttäuschung.

Dabei ist sie bei Romanadaptionen fürs Kino nicht das wahrscheinlichste Gefühl. Weit häufiger gelingt es ganz wunderbar, belletristische Texte zu kinematografieren - zuletzt etwa mit Andy Weirs »Der Marsianer«, Markus Zusaks »Die Bücherdiebin« oder Andreas Steinhöfels »Die Mitte der Welt«. Das mag daran liegen, dass die Verwandlung eines Romans in einen Film beinahe so alt ist wie das Medium des Films selbst. Jede Regiegeneration knüpft an, wo die vorherige innovierte. Außerdem machen bewegte Bilder lebendig, was sich zuvor nur im Kopf des Lesers abspielen konnte - ein Umstand, der die beim Lesen beflügelte Fantasie oft genug übertreffen kann. Mit seinen technischen Möglichkeiten erscheint das Kino damit als ideale Ergänzung des Romans.

Das Theater akzeptierte diesen Umstand lange und kaprizierte sich auf die literarische Gattung, für die es eigentlich geschaffen wurde: das Drama. Seit einiger Zeit drängt die Epik aber ins Repertoire deutschsprachiger Schauspielhäuser. Ein Drittel aller Premieren des Hamburger Thalia-Theaters in der Saison 2016/17 sind Vertheaterungen von Romanen, das Staatstheater Hannover bringt in der laufenden Spielzeit insgesamt sieben, das Staatsschauspiel Dresden sogar neun Romane auf die Bühne. Endgültig den Vogel schießt das Deutsche Theater (DT) Berlin ab, in dessen Programm sich derzeit 17 Romanadaptionen befinden.

Seinen Anfang nahm dieser Trend in den Gedanken eines Mannes, der mittlerweile vor allem für das DT arbeitet: 2005 schrieb der Dramaturg John von Düffel eine Fassung des 800 Seiten umfassenden Familienepos’ »Buddenbrooks« von Thomas Mann, das sich in gerade einmal drei Stunden über die Bühne bringen lässt. Seit der Uraufführung dieser Version am Thalia-Theater tourt sie mit großem Erfolg durch die Schauspiellandschaft. Den Intendanten scheint es seitdem ein Anliegen, ihr Stammpublikum nur noch im äußersten Ideennotstand mit Goethes »Faust« zu traktieren und ihm stattdessen die schwere Kost des kanonisierten Großromans in leicht verdaulichen Häppchen zu servieren. Zu den Gourmetstücken heutiger Spielpläne zählen seitdem immer öfter die großen Schwarten von Tolstoi, Dickens, Flaubert oder Döblin.

Als Robert Koalls griffige Textfassung von Wolfgang Herrndorfs großartigem Millionenbestseller »Tschick« 2014 zum meistgespielten Theaterstück des Jahres an deutschen Bühnen wurde, brachen die Dämme auch für die Gegenwartsliteratur. Autorinnen und Autoren neu erschienener Romane, die sich halbwegs gut verkaufen und in den überregionalen Feuilletons tendenziell auf ein positives Echo stoßen, können mittlerweile fest davon ausgehen, demnächst als Ehrengast der Uraufführung ihres eigenen Buches im Parkett sitzen zu dürfen. Bov Bjergs »Auerhaus«, Lutz Seilers »Kruso«, Antonia Baums »Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Stoßstangen zu ernähren«, Frank Witzels »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« - kein erfolgreicher Roman war zuletzt sicher vor der Verarbeitungslust der Dramaturgen.

Über die Gründe findet bisher erstaunlich wenig Debatte im Theaterbetrieb statt. Vielleicht liegt das Schweigen daran, dass Theatermacher im Gegensatz zu Filmschaffenden ungern eingestehen, immer stärker auf Zuschauerzahlen zu schielen. Wer einen literarischen Bestseller ins Haus holt, sichert sich auch einen Teil des Glanzes, den dieses Werk ausstrahlt. Eine Uraufführung bringt außerdem überregionale Aufmerksamkeit. Vor allem aber ist die Prosa beim jüngeren Publikum beliebter als das postdramatische Stück. Inmitten des wirtschaftlichen Rechtfertigungsdrucks, den sich das Theater in Zeiten des Stadtmarketingwahns ausgesetzt sieht, müssen auch die Spielleiter bestimmte Auslastungsquoten erfüllen. Und den Dramaturgen sind Romanbearbeitungen ein attraktives Zubrot: Wer Texte umfunktioniert, erhält dafür Tantiemen.

Es gibt neben den ökonomischen aber auch künstlerische Gründe, die den Boom des Romans am Theater erklären. Was politisch so entgegengesetzt denkende Kritiker des Gegenwartstheaters wie Gerhard Stadelmaier und Bernd Stegemann eint, ist ihr Verdruss ob der fehlenden Bereitschaft des Bühnenzeitgeistes, große Geschichten zu erzählen. Die Postmoderne hat dem deutschsprachigen Theater eingetrichtert, die Welt sei zu komplex geworden, um sich noch dem Epischen hingeben zu können. Weil viele Schauspielschulen den Nachwuchs mit dieser Nicht-Haltung ausbilden, dominiert auf den Bühnen die Performance. Da das Publikum sich aber nach großer Erzählung sehnt, bedienen sich die Theater bei den Romanautoren. Moritz Rinke, von Hause aus selbst Stückeschreiber, monierte im vergangenen Jahr treffend: »Wir haben derzeit offenbar mehr Dramatisierer als Dramatiker.«

Warum das dem Theater auf Dauer schaden könnte, das brachte Stadelmaier bereits 2004 auf den Punkt: »Wer erzählt, behauptet. Er ist außer sich. Wer spielt, schafft. Er ist bei sich.« Man muss diesem konservativen Puristen nicht in seiner apodiktischen Meinung zustimmen, Erzählung und Mimesis schlössen sich am Theater aus. Und trotzdem lässt sich der strukturelle Nachteil des Romanhaften auf der Bühne im Vergleich zu selbigem im Kino erkennen: Die Leinwand bietet eine Trickkiste, der keine Videoinstallation, keine Drehbühne und kein Lichtzauber am Theater gewachsen ist. Während der Film die Ausschweifung feiern kann, muss Bühnenschauspiel oft reduzieren und immer konzentrieren.

Darum ist es kaum verständlich, dass bislang so wenige Theater eine Erzählform wählen, die die Filmindustrie längst für sich entdeckt hat: die Serie. Hier treffen sich Kino und Theater, denn im seriellen Erzählen ist es möglich, Figuren zu fokussieren, die zuvor in zwei oder drei Flimmer- und Bühnenstunden nur angedeutet werden konnten. Die Berliner Schaubühne erzielte mit der dänischen Politserie »Borgen« in der vergangenen Saison auf diesem Terrain einen Achtungserfolg. Vielleicht entwickelt sich daraus ein Trend, der auf ebenso leisen Sohlen voranschreiten könnte wie die Hochkonjunktur des Romans.

Zumal es bereits jetzt immer wieder herausragende Darstellungen von Prosatexten am Theater gibt. Fulminant war etwa 2014 Thorsten Lensings vierstündige Fassung von Dostojewskis »Karamasow« in den Berliner Sophiensælen. Die Handlung stand im Hintergrund, damit die innere Zerrissenheit und die exzessiv ausgelebten Neurosen der Protagonisten so hell aufleuchten konnten wie die um die Bühne herum aufgehängten nackten Glühbirnen.

Ein zweites strahlendes Beispiel ist Rafael Sanchez’ Version von Falladas »Jeder stirbt für sich allein«, die derzeit in Dresden zu sehen ist und einen glatt über die neue Kinofassung hinwegtröstet. Sanchez schenkt den Nebenfiguren viel Raum. So kommt im Publikum dieses beklemmende Gefühl an, sich diesen seit 75 Jahren vergangenen Nachbarschaftsszenen befremdlich nahe zu wähnen. Es sind zwei Beispiele, die eines eindrucksvoll belegen: Wenn die Inszenierungen wirklich gut sind, dann erzählen Romane ihre Geschichten am Theater nicht über einen Plot, sondern über Charaktere.

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