Überzeugt von der eigenen Stärke
Ziel WM-Medaille: Die deutschen Handballer sind dank Dagur Sigurdsson wieder Weltspitze
Der Begriff der lahmen Ente, einer »Lame Duck«, entspringt der Tatsache, dass Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika immer noch einige Zeit im Amt verweilen, auch wenn sie schon abgewählt worden sind. Barack Obama ist aktuell eine »Lame Duck«. Bei der an diesem Freitag mit dem Spiel gegen Ungarn für das deutsche Team startenden Handball-Weltmeisterschaft gibt es eine ähnliche Konstellation, denn das Ende von Nationaltrainer Dagur Sigurdsson ist bereits besiegelt.
Nicht erzwungen wie beim mächtigsten Mann der Welt, sondern freiwillig erfolgt der Abschied von Dagur Sigurdsson, dem mächtigen Trainer der deutschen Nationalmannschaft. Der Isländer räumt seinen Platz nach dem Turnier in Frankreich aus eigenen Stücken. Als Europameister startet die DHB-Auswahl als Mitfavorit in die WM. Nach der feststehenden Demission von Sigurdsson beim Deutschen Handballbund (DHB) gibt es Beobachter, die ihm dort ein ähnliches Schicksal wie den US-Präsidenten vorhersagen. Viele Gründe sprechen jedoch dagegen, dass Sigurdsson zu einer lahmen Ente wird.
Bob Hanning hätte Anfang November Grund gehabt, hektisch oder nervös zu sein. Tage zuvor war durchgesickert, dass der Trainer der deutschen Handballer mit einem Abschied liebäugelt und natürlich musste diese Nachricht den Vizepräsidenten für Sport beim DHB beschäftigen. Aber Hanning saß vollkommen ruhig auf einem Stuhl und lächelte. »Die Autorität von Dagur wird kein bisschen darunter leiden«, sagte Hanning vor zwei Monaten voraus und weicht von seiner Meinung bis heute keinen Millimeter ab.
Der starke Mann des deutschen Handballs ist zuversichtlich vor dem Start in das Weltturnier. Daran ändern auch die Personalsorgen nichts, die das Nationalteam seit Jahren konsequent begleiten. Im rechten Rückraum steht Sigurdsson aktuell mit Kai Häfner (TSV Hannover-Burgdorf) nur ein Spieler zur Verfügung, dafür mit Holger Glandorf allerdings eine hochkarätige Verstärkung parat. Der 33-Jährige von der SG Flensburg-Handewitt hatte nach einer zweieinhalbjährigen Pause Anfang der Woche im Testspiel gegen Österreich ein beachtliches Comeback gefeiert und steht zur Verfügung, falls der Bundestrainer in den kommenden zwei Wochen nach ihm ruft.
Ein kurzzeitiges Problem in den Planungen Sigurdssons tat sich zu Beginn der Woche auf tragische Weise auf, denn nach dem unerwarteten Tod des Vaters von Uwe Gensheimer verließ der Kapitän das Trainingslager der Deutschen und kehrte zu seiner Familie nach Mannheim zurück. »Uwe bekommt alle Zeit, die er benötigt«, hatte Sigurdsson gesagt. Mittlerweile ist sicher, dass der Bundestrainer schon im Auftaktspiel gegen Ungarn mit Gensheimer rechnen kann. »Es ist so geplant, dass er heute nach Frankreich kommt«, sagte Hanning am Donnerstag. Die Ambitionen der Mannschaft wären aber selbst dann nicht gesunken, wenn der Kapitän seinen Verzicht aufs Turnier erklärt hätte. Die Mannschaft ist nicht mehr abhängig von einzelnen, so dass sie entspannt Richtung Vorrundenort Rouen reiste, obwohl der Kader da nur aus 14 statt der 16 möglichen Spieler bestand.
Die Fortentwicklung des Teams ist also offenkundig: Vor zweieinhalb Jahren trat Sigurdsson seinen Dienst als Bundestrainer an, als die Mannschaft nach der Qualifikation zur Europameisterschaft gerade auch die WM auf sportlichem Weg verpasst hatte. Im Kader standen Spieler, die ein Sinnbild für Misserfolg waren, die ohne Struktur und ohne Glaube an sich schon am geringsten Widerstand zerbrachen. »Dagur hat taktisch viel bewegt, aber in erster Linie hat er jedem Spieler eine neuen Glauben gegeben«, sagte Hanning.
Vor einem Jahr stürmte dann ein Haufen junger und bis dahin unbekannter Männer ins Finale der Europameisterschaft und zerlegte dort den Favoriten Spanien auf imponierende Art und Weise. Der Titelgewinn war das Werk des Isländers, der seine Spieler auf ein Niveau hob, das keiner von ihnen vorher für möglich gehalten hatte. Zu diesem Zeitpunkt hing die Entwicklung des deutschen Teams an ihrem Trainer, er war seiner Mannschaft noch voraus. Sigurdsson besitzt die Gabe, seine Spieler von ihrer Stärke zu überzeugen, deshalb folgen sie ihm und reifen an seiner Seite.
Bei den Olympischen Spielen im vergangenen Sommer standen zum großen Teil die gleichen Spieler auf dem Feld, aber eine andere Mannschaft. Sie arbeitete auf Zuruf ihres Trainers, hatte sich aber von ihm emanzipiert, weil sie erwachsener werden durfte. In Stresssituationen waren die Spieler in der Lage, eigenständig Lösungen zu finden. Sie wussten um die Fähigkeiten von Sigurdsson und folgten ihm aus eigenen Stücken, nicht zwanghaft. Aus diesem Grund wird das Verhältnis zwischen Coach und Team bei der anstehenden WM in Frankreich keine Risse bekommen.
Ein feststehender Abschied muss ohnehin nicht zu einem Spannungsabfall zwischen dem Trainer und seinen Spielern führen. Das bekannteste Gegenbeispiel sind Jupp Heynckes und der FC Bayern im Frühjahr 2013. Nachdem Heynckes der Mannschaft mitgeteilt hatte, nach der laufenden Saison aufzuhören, schwangen sich die Münchner zu großartigen Leistungen auf und bescherten ihrem Trainer mit dem Gewinn des Triples aus Meisterschaft, nationalem Pokalsieg und Champions-League-Gewinn einen rauschenden Ausstand.
Eine Nummer kleiner würde schon reichen, damit Sigurdsson nicht als »Lame Duck« des deutschen Handballs in Erinnerung bleibt. In der Vorrunde sind der erste Gegner Ungarn und Kroatien die schwierigsten Hürden für die DHB-Auswahl, Chile, Saudi Arabien und Belarus sollten wenige Probleme bereiten. Ab dem Achtelfinale sind Mannschaft und Trainer im Anschluss gefordert, und strotzen vor Selbstvertrauen. Eine Medaille, möglichst die goldene, ist das erklärte Ziel.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.