Das Risiko liegt bei den Kirchen
42 Kirchenasyle in Berlin und Brandenburg / Verein: »Bedarf liegt höher als unsere Möglichkeiten«
Kirchengemeinden in Berlin und Brandenburg gewähren derzeit insgesamt 42 Kirchenasyle. »Der Bedarf ist in den letzten drei Jahren stark gewachsen und liegt höher als unsere Möglichkeiten,« sagt Dieter Ziebarth von Asyl in der Kirche. Allein im vergangenen Jahr beriet der Verein mit Sitz in der Kreuzberger Flüchtlingskirche 600 Mal Betroffene. Der Verein konnte vielen Wünschen nach Schutz in einer Kirchengemeinde nicht entsprechen, weil Kapazitäten fehlen. Denn etliche Kirchgemeinden haben entweder nicht die Räume, um eine Familie vorübergehend aufzunehmen. Oder sie fühlen sich mit der Verantwortung überfordert. »Es ist sehr schwierig, neue Gemeinden für Kirchenasyle zu finden«, sagt Ziebarth, der pensionierter evangelischer Pfarrer ist.
Ein Kirchenasyl greift, wenn ein Flüchtling abgeschoben werden soll, wenn aber aus der Sicht der Kirche und anderer Unterstützer die Abschiebung humanitär nicht zu vertreten ist. Kirchenasyl ist das letzte Mittel, um einem abgelehnten Asylbewerber zu helfen. Es wird erst gewährt, wenn alle juristischen Mittel ausgereizt sind. Dabei gibt es eigentlich kein Gesetz, dass die Polizei daran hindert, Menschen aus der Kirche abzuführen und sie abzuschieben. Bis auf ganz wenige Ausnahmen wird das Kirchenasyl aber vom Staat respektiert. Die Zeit im Kirchenasyl ermöglicht auch den Behörden, ein Bleiberecht noch einmal zu prüfen.
»Aktuell sind rund 80 Prozent unserer Kirchenasyle sogenannte Dublin-Fälle«, sagt Ziebarth. Das heißt, ein Flüchtling soll in den europäischen Staat abgeschoben werden, in dem er zuerst registriert wurde und dort sein Asylverfahren betreiben. Diese Staaten sind meist Italien, Ungarn und Bulgarien. Für Flüchtlinge sind solche Rückführungen durchaus Härten. Einigen haben beispielsweise in Italien erlebt, dass sie unversorgt auf der Straße leben mussten. Andere wurden in Ungarn oder Bulgarien zu Unterschriften genötigt, indem sie inhaftiert oder geschlagen wurden. Viele haben zudem bereits Deutsch gelernt, ein soziales Umfeld und Fachärzte gefunden, die ihre Muttersprache sprechen. Das wollen sie nicht verlieren.
Ziebarth berichtet von einem aktuellen Kirchenasylfall, einem jungen Jesiden. Die Behörden wollen ihn nach Bulgarien abschieben. »Im Irak hat er erlebt, wie mehrere Familienmitglieder durch den IS regelrecht geschlachtet wurden. In Bulgarien saß er ein Jahr lang im Gefängnis. Der Mann ist psychisch am Ende und erklärt, Deutschland nicht wieder lebend zu verlassen.«
Für die Kirchgemeinde ist die Aufnahme des jungen Mannes eine hohe Verantwortung. Wer im Kirchenasyl ist, bekommt keine Sozialhilfe: Die Gemeinde muss den Wohnraum kostenlos zur Verfügung stellen und den Asylsuchenden versorgen. Ziebarth sagt: »Der Mann kann die Räume der Kirchgemeinde nicht verlassen, ohne Gefahr zu laufen, dass er festgenommen wird. Er muss dort auch sinnvoll beschäftigt werden.« Sollte der psychisch instabile Jeside krank werden, muss die Kirchengemeinde die Behandlungskosten zahlen. Denn im Kirchenasyl greift keine Krankenversicherung. Ziebarth sagt: »Wir können mit Ärzten oder mit konfessionellen Krankenhäusern kostenlose Hilfe oder Sonderkonditionen aushandeln. Aber da muss es wiederum jemanden geben, der sich im Hintergrund um all das kümmert und die Fäden zusammen hält. Die Kirchgemeinden tragen das Risiko.«
Bei sogenannten Dublin-Fällen geht ein Kirchenasyl fast immer erfolgreich aus. Denn Rückführungen in andere europäische Länder können nur in einer bestimmten Frist stattfinden. Ist die Frist überschritten, ohne dass es eine Rückführung gab, darf der Betroffene sein Asylverfahren in Deutschland durchführen. Das Kirchenasyl hilft, die Wartezeit zu überbrücken, ohne dass man Gefahr läuft, festgenommen zu werden.
Für die Zukunft rechnet der Verein, der von 66 katholischen, evangelischen und freikirchlichen Gemeinden unterstützt wird, mit vermehrten Abschiebungen in Krisengebiete wie etwa Afghanistan. Seit November 2016 lehne das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge deutlich mehr Asylanträge ab als zuvor, sagt Ziebarth. »Da werden wir als Kirchenasylbewegung noch stärker gefragt sein.«
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