Alle Hemmungen sind gefallen
Mit ihrer Klage auf Beteiligung des Parlaments am Brexit hat Gina Miller den Hass der konservativen britischen Presse auf sich gezogen
Bis vor Kurzem galten die Briten als tolerantes, gastfreundliches Volk. Von Karl Marx bis Napoleon III. boten sie politisch Verfolgten eine sichere Zuflucht, zeigten sich gegenüber diktatorischen Parolen skeptisch. Ihre Medien galten als gut informiert und - zumindest was die BBC betraf - als unparteiisch. Es gab zwar Ausrutscher - »Wenn du einen Nigger zum Nachbarn haben willst, wähle Labour«, tönte ein erfolgreicher Tory-Kandidat 1964 - aber im Allgemeinen galt: Sachliche Kritik war erlaubt, persönliche Beschimpfungen blieben verpönt.
Dann kamen die Brexit-Abstimmung und ihre Folgen. Das High Court entschied gegen Theresa Mays Regierung, dass Abstimmungen in beiden Parlamentskammern nötig seien, bevor die Premierministerin mit ihrer Unterschrift unter Artikel 50 des Lissabonner Vertrages den britischen EU-Austrittsprozess einleiten könnte. Die Brexiter hatten zwar lauthals die Souveränität ebendieses Parlaments verlangt, britischen vor EU-Richtern den Vorzug gegeben - aber jede mögliche Verzögerung des Austrittstermins ging den EU-Hassern zu weit.
Regierungsjuristen geißelten das Urteil des Gerichtshofes als falsch und bizarr. Anstatt nachzugeben, vergeudeten sie das Geld der Steuerzahler durch den Gang vor das Oberste Gericht, dessen Urteil am Dienstag bevorsteht. Dabei würde Labour May im Unterhaus unterstützen und sich mit nur kleinen Verbesserungen abspeisen lassen.
Sollte das Urteil zugunsten des Parlaments ausfallen, stehen noch viele Fragen aus. Beispielsweise, ob eine einfache Abstimmung im Parlament genügt oder ob ein aufwendiger Gesetzgebungsprozess notwendig ist. Hinzu kommt: Schottland, Wales und Nordirland fordern ein Mitspracherecht für ihre Volksvertretungen. Sollten sie auch die Richter davon überzeugt haben, könnte das den Brexit zusätzlich verzögern. Die Schotten haben mit deutlicher Mehrheit gegen einen EU-Austritt gestimmt. Die Regierung in Edinburgh will die Bindung an die EU so eng wie möglich gestalten oder unabhängig werden. In Nordirland stehen Anfang März Neuwahlen an. Das könnte die Scheidung noch komplizierter machen.
Derweil erschienen in konservativen Boulevardzeitungen wie die »Daily Mail« Beschimpfungen der erfolgreichen Klägerin in erster Instanz, der Investmentfonds-Managerin Gina Miller. In den sozialen Medien bekam sie Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Brexit-Anhänger griffen die Richter als »Volksfeinde« an, kein Regierender nahm die Unparteilichkeit der Richter oder das Recht der Klägerin in Schutz. Großdemonstrationen vor dem Obersten Gericht wurden angekündigt, um die Richter im Sinne der Brexiter einzuschüchtern. Alle Hemmungen auf der Leave-Seite waren beseitigt.
Aber diese Verrohung der politischen Kultur setzte nur das Leave-Verhalten während der Abstimmungskampagne fort. Hier herrschten direkte Lügen. Ein EU-Austritt würde das Land pro Woche 350 Millionen Pfund an EU-Beiträgen sparen, ließen sie auf ihrem Propagandabus malen. Vergaßen dabei die Rückflüsse an britische Bauern oder Universitäten; die Nettozahlungen betrugen nur 140 Millionen, eine für das (bis jetzt) wohlhabende Land akzeptabler Betrag. Zur Beitragslüge kamen weitere Lügen. Zum Beispiel die Flüchtlingslüge: Ein von der rechten UKIP verbreitetes Plakat zeigte eine Riesenschlange dunkelhäutiger angeblicher Dover-Migranten mit der perfiden Assoziation: Die EU hat versagt. Dabei wurde das Foto an der slowenischen Grenze geknipst. Diese vom Trump-Freund Nigel Farage und dem früheren Londoner OB Boris Johnson verbreiteten Unwahrheiten entschieden die Abstimmung im Sinne von Brexit. Theresa May beförderte Johnson daraufhin zum Außenminister, die Unkultur wurde also belohnt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.