Dickes Lob
Nach 19 Jahren hat mit Kisenosato endlich wieder ein Japaner den höchsten Rang im Sumo verliehen bekommen
Als der Erzrivale Hakuho am Samstagnachmittag überraschend ins Straucheln geriet, fühlte sich der 175-Kilomann, der auf der Tribüne mitfieberte, plötzlich ganz leicht. Damit war Yutaka Hagiwara, besser bekannt unter seinem Ringnamen Kisenosato, durch den ansonsten meist übermächtigen Hakuho nicht mehr einzuholen. Kisenosato hatte also das Kaiserturnier in Tokio am vorletzten Kampftag gewonnen. Dem Mann aus dem ostjapanischen Ibaraki fiel ein Stein vom Herzen, denn der Triumph bedeutete nicht nur reichlich Preisgeld und eine große Trophäe für seinen Sumostall. Dieser Turniersieg war viel mehr wert: Kisenosato konnte durch seinen ersten Turniersieg endlich zum Yokozuna befördert werden, dem höchsten Rang im Sport.
Am Mittwoch beschloss der Ältestenrat des Sumoverbands in Tokio, dass Kisenosato dieses Status würdig ist, da er schon im vergangenen Jahr zu den stärksten Kämpfern überhaupt gehört hatte. Nach 19 Jahren japanischer Abstinenz besteigt damit wieder ein Japaner den Thron in dieser japanischsten aller Sportarten. »Es ist schwierig, das in Worte zu fassen, das Ganze wiegt noch so schwer«, sagte Kisenosato am Sonntag nach dem Turnier. Dass ihm am Mittwoch die höchste Ehre erteilt wurde, was in den 400 Jahren, während derer Sumo als Profisport betrieben wird, nur 72 Athleten je gelang, ist in Japan eine Sensation, die vielleicht über den Sport hinausreicht.
Gewissermaßen kann Kisenosatos bisheriges Image als Metapher auf den Ruf vieler japanischer Männer im jungen Erwachsenenalter verstanden werden. Von deren Eltern ist häufig zu hören, die Nachkömmlinge seien zu unentschlossen, ihnen fehle Ehrgeiz und Mut, sie wüchsen im Wohlstand auf und hätten das Kämpfen nicht gelernt. Das wurde auch dem talentierten Kisenosato nachgesagt, der schon zwölf Mal bei Turnieren Zweiter wurde, immer wieder in den letzten Duellen versagte. Viele Kommentatoren hatten den mittlerweile 30-jährigen schon abgeschrieben. Dass er den Thron nun doch besteigt, könnte auch dem gesamten Sport einen Aufwind geben.
Seit einigen Jahren steckt Sumo in einer Krise. Der Sport, dessen Geschichte 2000 Jahre lang zurückreicht, religiöse Ursprünge hat und auch als Zeremoniell für den Kaiserhof dient, war in den letzten Jahren zu nicht viel mehr als einem kulturellen Erbe verkommen. Zumindest dann, wenn man es mit der Beliebtheit von früher vergleicht. In den 1990er Jahren übertrug sogar das europäische Fernsehen die Kämpfe live, auch in Japan waren die Einschaltquoten deutlich höher als heute. Mittlerweile sind Baseball und Fußball populärer, sogar Golf zog zuletzt mehr Leute vor die Fernseher. Die Jugend von heute hängt sich Poster von Fußballern mit Gelfrisuren über das Bett, seltener von massigen, halbnackten Ringern.
Ein Grund für die Krise ist, dass Sumo seine einstige Funktion als inoffizieller Sozialstaat eingebüßt hat. Früher waren es oft Kinder aus armen Landfamilien, die in die Sumoställe in Tokio zogen, wo es neben Kost und Logis sowie hartem Training die Aussicht auf eine Karriere gab. Heute ist Japans Gesellschaft wohlhabender, hat weltweit führende Bildungs- und Gesundheitssysteme. Japan erzählt sich gerne, dass alle zur Mittelschicht gehören. So sind die Bewerberzahlen für Plätze in den Sumoställen über die Jahre deutlich gesunken. Um dennoch Talente anzuziehen, wurden mehrmals die Gewichts- und Größenkriterien herabgestuft, teilweise wurden Ringer ohne Probetraining angenommen. Ein Stall verteilte sogar Flyer bei Baseballturnieren - auch wenn die Sportler dort viel schmächtiger sind, als es beim Sumo üblich ist.
Dass die Nachfrage so gering ist, liegt auch daran, dass die Sumokultur in den vergangenen Jahren in Verruf geraten ist. Gewalt in den Ställen machten mehrmals Schlagzeilen, ein anderes Mal kam Steuerhinterziehung ans Licht, dann war es Korruption. Aber auch ohne solche Skandale scheint das Leben für viele junge Menschen kaum attraktiv. Die Hierarchien sind steil und richten sich nach Dienstalter und Erfolg bei Turnieren. Der Jüngste kocht und wäscht den Älteren den Körper. Geschlafen wird gemeinsam in einem Raum, trainiert wird morgens auf nüchternen Magen.
Es passt zum Bild, das die ältere Generation sich von der jüngeren macht, wenn so ein Leben nur noch wenige Japaner anspricht. Allerdings wird für das Fernbleiben junger Talente noch ein weiterer Grund häufig genannt. »Ich glaube, ein japanischer Yokozuna wäre schon gut«, mutmaßte Yokozuna Harumafuji einmal in einem Interview. Der letzte Japaner, der den höchsten Rang bekleidete, war ab 1998 Wakanohana, dessen Karriereende liegt aber auch schon 14 Jahre zurück. Die beiden anderen Yokozuna, Kakuryu und Hakuho, die seitdem den Sport dominieren, kommen wie Harumafuji aus der Mongolei. Sie leben zwar seit Jahren im Land und sprechen fließend Japanisch. Aber Kinder eifern letztlich doch am liebsten Athleten nach, die auch in Japan geboren wurden.
Kisenosato weiß, dass jetzt noch mehr Druck auf ihm lastet als zu den Zeiten, in denen er noch der ewige Zweiter war. »Yokozuna ist ein Rang, der Verantwortung mit sich bringt. Niederlagen bedeuten jetzt das Ende.« Das ist wörtlich zu verstehen: verliert ein Yokozuna zu viele Kämpfe, wird ihm vom Ältestenrat der Rücktritt nahegelegt. Einem Japaner sollte das jetzt, wo die mongolische Vormachtstellung angegriffen ist, auf keinen Fall passieren.
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