Auf allen Wänden flimmert das Elend
»Lesbos - Blackbox Europa« - Gernot Grünewald stellt am Deutschen Theater den Krisentourismus und das Flüchtlingsleid einander gegenüber
Zusammengepfercht stehen sie in ihrer feuchten Knastzelle. Vor Kälte frierend, schubsen sie sich gegenseitig immer wieder beiseite, weil jeder sich so lange wie möglich diesen einen kleinen Sonnenstreifen ins Gesicht scheinen lassen will. Was diese Leute verbrochen haben? Nichts. Zu Delinquenten macht sie einzig ihr Flüchtlingsstatus. Menschen in Not, illegalisiert und durch die Banalität der Bürokratie degradiert zu seelenlosen Aufenthaltsgenehmigungsverfahrenssubjekten. Aus Kriegs- und Armutsgründen begaben sie sich in die Hände skrupelloser Fluchthelfer, die sie gegen viel Geld in kaum seetauglichen Schlauchbooten und mit völlig unbrauchbaren Schwimmwesten übers Mittelmeer geschickt haben. Im ersehnten Europa angekommen, landeten die Geflüchteten schon bald in Abschiebehaft unter der Knute einer Friedensnobelpreisträgerin namens Europäische Union.
Die Szene, die diese Geschichte erzählt, dauert nur wenige Minuten. Sie ist aber die beste dieses ansonsten vor allem als Reiseberichterstattung angelegten Abends in der Box des Deutschen Theaters. Was die drei Schauspieler Thalfakar Ali, Božidar Kocevski und Katharina Schenk auch immer in den videoprojektionsgesättigten Raum hineinpalavern, dieses kurze Aufleuchten klassischen Schauspiels enthält eine ergreifendere Anklage als jede eloquent vorgetragene Wutrede. Dafür braucht es praktisch nur die Kraft der Mimesis: Ali, der 2015 in Deutschland angekommene irakische Flüchtling, tritt ans Mikrofon und teilt seine leidvollen Erfahrungen mit. Dann greift er sich die Mitspielenden und konkurriert mit ihnen um den Lichtstrahl des Scheinwerfers. Ein treffendes Bild für jene herrschende Unmenschlichkeit, die diese Performance in knapp anderthalb Stunden wortreich nachweist.
Schon der Titel lässt das Publikum vorab erahnen, welche Haltung dieses Ensemble anzubieten hat: »Lesbos - Blackbox Europa«. Im Sommer 2016 bereiste der Regisseur Gernot Grünewald mit seinem Tross die griechische Insel, um zu den dortigen Bedingungen für Flüchtlinge zu recherchieren. Was das Team zu Gesicht bekam, in Gesprächen mit Lokalpolitikern erfuhr und in zwei Auffanglagern herausfand, das überstieg offenbar die Erwartungen aller Mitgereisten, so stark erschöpft sich der Großteil des künstlerischen Ergebnisses in einer diaabendhaften Beschreibung der Reiseeindrücke.
Hier gibt es also In-your-Face-Theater, das von Beginn an den empörten Menschenfreund adressiert. Wenn die Zuschauer den vierwändigen Saal betreten, flimmern auf allen Seiten bewegte Bilder aus Lesbos. Zusätzlich dringen einem O-Töne freiwilliger Helfer in die Ohren (»Ich wollte einfach nicht mehr zusehen, sondern helfen. Wir sollten mal raus aus unserer Komfortzone«), während das Performer-Trio unbequeme Pappkartonhocker an die Gäste verteilt. Sofort startet eine umfassende Rechtfertigung ihrer Wut und eine indizienreiche Beweisführung des auf Lesbos angetroffenen Leids.
Stark ist dieser Abend jenseits der konkurrenzlos wichtigen Schilderungen von Thalfakar Ali in zweierlei Hinsicht: Zum einen immer dann, wenn Božidar Kocevski und Katharina Schenk den Mut aufbringen, ambivalente Gefühle preiszugeben. Bei der Besichtigung des Elends, das könnten sie wahrscheinlich gar nicht verbergen, ertappten sie sich beispielsweise immer wieder beim Empfinden einer voyeuristischen Faszination, derer sie sich sofort schämen.
Ihre zweite Stärke findet die Darbietung, wenn die beiden theatralen Krisentouristen ihre Hilflosigkeit offenbaren. Als Schenk mitten auf einem Friedhof für angeschwemmte Flüchtlinge steht und eine Schweigeminute vorschlägt, fällt ihr auf, wie wohlfeil das eigentlich ist. Sie weiß aber keine angemessenere Reaktion. Das wiederholt sich in mehreren Varianten. In solchen Momenten macht die reine Erzählung greifbar, dass Appelle an die Menschlichkeit handelnder Politiker und die lebenslauftaugliche Charity mancher NGO-Praktikanten nicht ausreichen können, um dem todbringenden Grenzregime beizukommen. Drängt sich in weiten Teilen der lediglich berichtenden Monologe der Eindruck auf, hier würde einem linksliberalen Publikum eine Perspektive präsentiert, die es ohnehin jeden Tag beim Nachrichtenkonsum und in Gesprächen an der Biosupermarktkasse einnimmt, lohnen allein schon diese Lichtblicke das Ausharren auf den ungemütlichen Sitzen.
Nächste Vorstellungen: 5., 19., 26. Februar
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