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»Die AfD ist eine Partei der Privilegierten«

Bundespräsidenten-Kandidat Butterwegge über rechte Sozialpolitik, linke Steuerpolitik und das Problem bei Wahlen

Donald Trump ist wider Erwarten US-Präsident geworden, die Briten haben überraschend für den EU-Austritt gestimmt und den zweiten Wahlsieg von Alexis Tsipras haben auch viele nicht erwartet. Jetzt sind Sie Kandidat der Linkspartei für das Amt des Bundespräsidenten. Werden Sie am 12. Februar überraschend gewählt?
Nichts ist unmöglich, aber ich erwarte keine solche linke Sensation. Was ich anstrebe, ist ein Achtungserfolg.

Wie würde der aussehen?
Ich bin mir der Zustimmung der 95 linken Wahlmänner und Wahlfrauen gewiss, werbe daneben jedoch um Stimmen der Grünen und der Piraten. Ich hoffe auch, dass mir sozialdemokratische Wahlmänner und Wahlfrauen ihre Stimme geben, weil sie mit der Agenda 2010 und dem Kurs ihrer Partei seit dieser Zeit nicht einverstanden sind. Wenn ich deutlich im dreistelligen Bereich lande, wäre dieses Ergebnis ein Zeichen dafür, dass nicht nur die Linkspartei froh wäre, wenn es einen politischen Richtungswechsel gäbe.

Sie haben sich in den vergangenen Wochen Abgeordneten im Bund und in vielen Ländern vorgestellt. Wie war die Resonanz?
Ganz unterschiedlich waren die Reaktionen der Grünen: Sie reichten von harscher Ablehnung, die einzelne Bundestagsabgeordnete gezeigt haben, bis zur freundlichen, ja freundschaftlichen Aufnahme in grünen Landtagsfraktionen. In den Ländern messen viele Grüne der sozialen Frage offenbar eine hohe Bedeutung bei. In der Bundestagsfraktion ging es dagegen so gut wie gar nicht um meine Agenda der Solidarität. Umso eindringlicher wurde ich nach meiner Haltung zu Israel und Putin gefragt und danach, ob ich als Bundespräsident in Osteuropa gegen die Diskriminierung Homosexueller Stellung beziehen würde.

Und?
Ich trete seit langem gegen die Diskriminierung von Minderheiten ein, egal ob hierbei auf das Geschlecht, die ethische Herkunft, die religiöse Überzeugung oder die sexuelle Orientierung abgehoben wird. Im Zentrum steht für mich aber die Spaltung in unserer Gesellschaft zwischen Arm und Reich, die auch eine Gefahr für die Demokratie ist.

Etliche Grüne haben eben andere politische Prioritäten und Positionen als Sie. Das ist doch legitim.
Natürlich. Mein Eindruck ist, dass einzelne prominente Bundesgrüne auf Schwarz-Grün setzen und gerne Minister unter Angela Merkel werden möchten. Sie freuen sich vermutlich nicht darüber, dass ich mit meiner Kandidatur ein Signal in Richtung Rot-Rot-Grün aussende. In den Landtagen ist die Stimmung offener und das Interesse an Sozialpolitik größer, nicht nur bei den Grünen, auch bei vielen Sozialdemokraten und sogar CDU-Parlamentariern.

Nun weisen Sie als Armutsforscher die Politik seit Jahrzehnten auf das Auseinanderfallen der Gesellschaft hin. Warum haben bisher so wenige Politiker auf Sie gehört?
Die Armen haben keine mächtige Lobby. Die Reichen sind dagegen meist auch politisch einflussreich. Politiker sind ständig dem Einfluss der ökonomisch Mächtigen ausgesetzt und verhalten sich entsprechend.

Parteien brauchen aber Mehrheiten, um an die Macht zu kommen.
Die Politiker wissen aber auch, dass Arme, etwa Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV, kaum noch wählen gehen. Deswegen konzentrieren sie sich auf die eher gut situierten Schichten. Denn in den meisten deutschen Großstädten ist die Wahlbeteiligung in ärmeren Vierteln deutlich niedriger als in Villenvierteln, teilweise ist sie über 40 Prozentpunkte geringer.

Haben Sie ein Beispiel?
Köln-Chorweiler ist ein Hochhausviertel mit einigen Einfamilienhäusern. Dort lag die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013 bei 42,5 Prozent. In dem Villenviertel Hahnwald betrug sie fast 89 Prozent.

Der Einsatz gegen Armut zahlt sich für Politiker also nicht aus, weil viele Arme nicht wählen?
Er zahlt sich nicht unbedingt direkt aus. Trotzdem stehen Politikerinnen und Politiker in der Verantwortung, gegen die soziale Spaltung vorzugehen. Aus der sozialen Spaltung erwächst nämlich eine Krise der Demokratie, und dagegen müssen Demokraten etwas tun.

Nun gibt es zurzeit eine Partei, die unter Erwerbslosen, Arbeitern und ehemaligen Nichtwählern ziemlich erfolgreich ist: die AfD.
Viele AfD-Wähler kommen aus dem Kleinbürgertum beziehungsweise aus der Mittelschicht und haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Dass auch Arbeitslose die AfD wählen, hat sicherlich viel mit dem Frust über andere Parteien zu tun. Ich würde das nicht als Protestwahl bezeichnen, denn Protest richtet sich gegen die Herrschenden. Und die vermeintliche »Alternative für Deutschland« steht auf der Seite der Mächtigen und will Steuern für Reiche abschaffen, etwa die Vermögens- und Erbschaftssteuer. Sie ist eine Partei der Privilegierten, keine Protestpartei.

Was hat die AfD Arbeitslosen zu bieten?
Sie möchte mittels einer sogenannten aktivierenden Grundsicherung den Druck auf Langzeiterwerbslose weiter erhöhen. Die Jobcenter sollen von den Kommunen betrieben werden. Etwas Ähnliches gab es schon einmal in der Weimarer Republik. Das führte bei den Sozialleistungen zu einem Senkungswettlauf zwischen den Städten, um Langzeitarbeitslose durch niedrigere Sätze als die Nachbargemeinde zum Wegzug zu veranlassen. Leider kennen viele AfD-Wähler das Programm dieser Partei nicht, wo solche Vorschläge zu finden sind.

Bekannt ist die flüchtlingsfeindliche Haltung der AfD. Was sagen Sie Menschen, die das gut finden?
Schon bevor der erste Flüchtling kam, gab es in vielen Städten keine bezahlbaren Wohnungen für Gering- oder Normalverdiener. Die vermehrte Fluchtmigration nach Deutschland hat dazu beigetragen, dass dieses Problem überhaupt öffentlich thematisiert wurde. Wenn die Flüchtlinge nicht gekommen wären, hätte das Bundeskabinett die Mittel für den sozialen Wohnungsbau nicht verdoppelt und dann noch einmal erhöht. Wo durch osteuropäische Migranten und Flüchtlinge eine verstärkte Konkurrenzsituation auftreten kann, ist bei den Obdachlosen. Deshalb müssen die politisch Verantwortlichen endlich mehr Geld in die Hand nehmen, Wohnungslosigkeit durch ein Verbot von Zwangsräumungen verhindern und kurzfristig mehr Unterkünfte schaffen, damit die Obdachlosen nicht um wenige Plätze in Notschlafstellen und Wärmestuben rangeln oder in langen Schlangen um Essen bei den Lebensmitteltafeln anstehen.

Sie fordern, den Wohlstand umzuverteilen. Ab welchem Einkommen sollten die Steuern erhöht werden?
In den 1950er Jahren gab es einen Spitzensteuersatz von 91 Prozent. Nun schlägt die Linkspartei eine Millionärssteuer von 75 Prozent vor. Das finde ich eine vernünftige Orientierungsmarke.

Sie sprechen von einer Steuer auf Einkommen, nicht auf Vermögen?
Genau. Hier geht es um alleinstehende Menschen, die mehr als eine Million Euro im Jahr verdienen. Für jeden Euro, der über dieser Million liegt, müssten sie dann 75 Cent Steuern zahlen. Ab einem Jahreseinkommen von ungefähr 250 000 Euro könnte der Steuertarif nach und nach steigen, bis er diese 75 Prozent erreicht. Entlastet werden sollten Gering- und Normalverdiener. Ich finde es fatal, dass ein Facharbeiter, der viele Überstunden macht, den Spitzensteuersatz zahlen muss. Zurzeit wird der Spitzensteuersatz von 42 Prozent ja schon ab einem Einkommen von rund 53 000 Euro fällig.

Auch die Linkspartei will den Wohlstand gleichmäßiger verteilen. Wieso finden das nicht mehr Bürger gut? Bei der letzten Bundestagswahl hat die Linkspartei gerade einmal 8,4 Prozent der Stimmen bekommen.
Mein Eindruck ist, dass der Antikommunismus hierzulande viele davon abhält, die Linkspartei zu wählen. Mir haben viele geschrieben: Wir kennen Sie schon lange als Kritiker der Bundesregierung und stimmen Ihnen voll zu. Aber warum paktieren Sie jetzt mit der Linken? Das ist doch die Partei der SED, der Mauerschützen und der Stasi. Hinzu kommt, dass die Leistungsideologie tief verankert ist: Wer arm ist, hat es demnach verdient, weil er leistungsunwillig und ein Faulenzer ist. Wer reich geworden ist, hat es auch verdient, weil er sich angestrengt hat und fleißig war.

Aber es ist doch offensichtlich, dass das so nicht stimmt. Eine Altenpflegerin kann noch so tüchtig sein und wird trotzdem nicht so viel Geld verdienen wie ein Investmentbanker.
Das ist richtig. Aber solche Erfahrungen müssen auch theoretisch verarbeitet werden. Dazu ein Beispiel: Sie können hunderttausendmal einen Stein fallen lassen und trotzdem nicht verstehen, warum er auf die Erde fällt - es sei denn, Sie kennen das newtonsche Gravitationsgesetz.

Und welches Gesetz müssten die Menschen kennen, um die Ungleichheit zu verstehen?
Die soziale Ungleichheit ist ein Strukturmerkmal des Kapitalismus. Das Auseinanderfallen der Gesellschaft ist in einem Wirtschaftssystem, das auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln, der Warenproduktion und der Mehrwertaneignung beruht, angelegt. Beschäftigte sind strukturell in einer schwächeren Position als Unternehmer. Und eine Bank hat mehr Marktmacht als ein Altenheim, sie erzielt höhere Gewinne und kann ihre Belegschaft besser bezahlen. Der Staat kann für mehr oder weniger Umverteilung sorgen. Wenn man diese Strukturen außer Acht lässt, wird Armut auf ein individuelles Problem reduziert. Dann hat die arme Person eben zu viel gesoffen - und es wird geflissentlich übersehen, dass es unter Reichen auch Säufer gibt.

Anstatt den Wohlstand umzuverteilen, werden Migranten zu Sündenböcken gemacht - nicht nur von der AfD. Der Nationalismus ist in Europa und den USA auf dem Vormarsch. Welche Lehre ziehen Sie daraus?
Das kommt für mich nicht sehr überraschend. Aus der Geschichte ist bekannt, dass sich vom sozialen Abstieg bedrohte Menschen in wirtschaftlichen Krisen und gesellschaftlichen Umbruchsituationen häufiger politisch nach rechts wenden. Erinnert sei an den Aufstieg der NSDAP in der Weltwirtschaftskrise gegen Ende der 1920er Jahre, Anfang der 1930er Jahre. Oft vergessen wird der Aufstieg der NPD nach der Rezession 1966/67. Heute profitiert die AfD von den Abstiegsängsten vieler Angehöriger der unteren Mittelschicht. Die politische Radfahrer-Methode beinhaltet, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Und US-Präsident Donald Trump verkörpert für mich, wofür ich beim Aufstieg des Neoliberalismus zu einer politischen Zivilreligion vor über 20 Jahren den Begriff Standortnationalismus geprägt habe.

Die sogenannte Radfahrer-Methode passt ganz gut zu einem entfesselten Kapitalismus, in dem sich der Stärkere durchsetzen soll.
Absolut. Man braucht auch keinen Mut, sich gegen mehr oder weniger rechtlose Flüchtlinge zu wenden - anders als die AfD und andere Rechte mit dem Slogan »Mut zur Wahrheit« behaupten. Mut braucht man, wenn man sich gegen die wendet, die Geld und Macht haben.

Glauben Sie eigentlich, dass eine rot-rot-grüne Bundesregierung irgendetwas besser machen würde?
Die Stärke der AfD basiert auf der Schwäche der Linken, nicht nur der Partei dieses Namens. Sie ist schwach, weil sie keine Machtperspektive hat. Eine rot-rot-grüne Option könnte den Menschen neue Hoffnung geben. Dabei habe ich nicht die Illusion, dass eine solche Regierung alle sozialen Ungerechtigkeiten beseitigen würde. Ich hege aber die Hoffnung, dass sie gesellschaftliche Veränderungen einleiten und die Bundesrepublik sozial gerechter, humaner und friedlicher machen könnte - vor allem, wenn die sozialen Bewegungen sie durch außerparlamentarischen Druck dabei unterstützen.

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