Um die ewige Kanzlerin zu verhindern?
Uli Schöler fordert von der Sozialdemokratie Vergewisserung der eigenen Geschichte und Identität
Der Bundestagswahlkampf wirft seine Schatten voraus. Wenn auch zaghaft sind Stimmen in der SPD zu vernehmen, wie man vielleicht doch durch einige Korrekturen bisheriger Positionen und durchs Auslegen von Ködern für potenzielle Koalitionspartner und deren Wählerklientel auch als zweiter Sieger eine »ewige Kanzlerin« verhindern könnte. Der Wechsel in der Führungsspitze und die Ernennung des Europa-Politikers Martin Schulz zum Herausforderer für Angela Merkel könnte ein kleiner kluger Schachzug sein. Das Umfragehoch dürfte jedoch eher jenen geschuldet sein, die den SPD-Kadidaten nur als kleineres Übel sehen.
Damit will sich Uli Schöler nicht abfinden. Das einstige Vorstandsmitglied der oft radikalen Jusos und heute Vorsitzender der Willy-Brandt-Stiftung treibt die Sorge um, seine in einer ihrer tiefsten Sinnkrise steckende Partei könnte dauerhaft ihres Status als »linke Volkspartei« verlustig gehen, wenn es an programmatischer Substanz mangelt. Deshalb hat er eine Aufsatzsammlung aus drei Jahrzehnten zu jetzt wieder aktuellen Fragen hinsichtlich Geschichte und Identität der Sozialdemokratie sowie deren Wandlungen vorgelegt.
Schöler ist sich bewusst, dass »divergierende, selbstkritische Stimmen, die innersozialdemokratisch selbst den Finger in die Wunde legen, allenfalls an den Rändern oder in wenig beachteten Zeitschriften zu finden sind«. In seiner durchaus anregenden Einleitung stellt er fest: »Dass dort zu lesende kritische Interventionen Einfluss auf den Kurs der Gesamtpartei hätten, kann nicht mit guten Gründen behauptet werden.« Die Folgen dessen hat ein führender Parteienforscher schon 1965 treffend beschrieben: »Wenn die Partei eine Organisation ist, die weder Schutz für eine gesellschaftliche Position bietet noch als Ankerplatz für intellektuelle Anliegen gilt und kein Bild für die Gestaltung der Zukunft besitzt, wenn sie statt dessen eine Maschine für kurzfristige und nur von Fall zu Fall auftauchende politische Alternativen wird, dann setzt sie sich den Risiken aus, denen sich alle Hersteller von Verbrauchsgütern gegenübersehen: die Konkurrenz bringt fast den gleichen Artikel heraus - in noch besserer Verpackung.« Dem will Schöler ein wenig entgegensteuern - mit Willy Brandt und Helmut Schmidt, bei denen noch gegolten habe, »dass sich die eigenen Vorstellungen des politischen Agierens nur im Wege der Vergewisserung der eigenen Herkunft und Geschichte entwickeln ließen«.
Dazu präsentiert Schöler in sechs Rubriken untergliedert seine Texte. Er fragt unter anderem, was vom Marxismus geblieben ist. Mit seinem Buch »Ein Gespenst verschwand in Europa« hat er hierzu schon 1999 tüchtig vorgelegt. Schöler sinniert über das »Schisma der deutschen Arbeiterbewegung« und historischen Linkssozialismus. Als eigensinnige Köpfe würdigt er Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen. Zum Verhältnis von Rosa Luxemburg und Lenin liest man aber auch bei Schöler nur alte Kamellen.
Der Abschnitt zu Herkunft und Zukunft der Sozialdemokratie ist ziemlich enttäuschend, durfte der Leser doch erwarten, hier eine Darstellung der gegenwärtigen Herausforderungen zu bekommen. Aber außer der Forderung nach einer notwendigen »Vergewisserung« der eigenen Geschichte und Identität haben die Texte zu wenig Bezug zu den in der Einleitung weitgehend zutreffend formulierten sieben Herausforderungen: atomare Massenvernichtungswaffen; ökologische Krise; neue Informations- und Kommunikationstechnologien; globalisierte Märkte für Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräfte; entfesselte Finanzmärkte; kulturelle Internationalisierung sowie der Terrorismus. Lediglich in einem Beitrag nähert sich der Autor einer der »schwierigsten Herausforderungen«, indem er die Probleme von nationaler und internationaler Solidarität im Kampf um Arbeitsplätze diskutiert. Allerdings fehlte ihm hier ein überzeugender Zugang, weil er nicht von einer allgemeinen Systemkrise ausgeht, die sich im globalen Versagen der Marktwirtschaft mit den verschiedensten Folgeerscheinungen wie dem massiven Aufkommen rechter nationalistischer Bewegungen, der Prekarisierung und Massenmigration, der Krise der europäischen Idee und Wirklichkeit etc. am prägnantesten widerspiegelt. Von einem eher dem linken Flügel zuzurechnenden Denker hätte man sich prononciertere Aussagen gewünscht, welchen konkreten Herausforderungen sich eine über ein zeitweiliges koalitionäres Bündnis von Linkspartei und SPD hinausreichende systemkritische Bewegung stellen müsste.
Alles in allem sind für die am Marxschen Denken festhaltenden und mit DDR-Erfahrungen gesättigten Leser und Leserinnen die - zwar mit manchem Fragezeichen zu versehenden - Texte anregend. Auch wenn sich nach der Lektüre die Erkenntnis bestätigt: Ein bisschen Marx geht genauso wenig wie ein bisschen schwanger. Man kann sich trotzdem nur wünschen, Schölers Aufsätze würden einen Diskurs innerhalb der ganzen Linken anstoßen, damit der Dialog als Vorstufe einer geplanten Koalition auf Bundesebene nicht an den Grenzen eines für sozialdemokratisches Politikverständnis typischen platten Pragmatismus stehen bleibt. Fragt sich, ob das mit Schulz möglich sein wird. Bisher ist nur sicher, dass er wesentliche, zum Politikgeschäft zählende Fähigkeiten besitzt: Vereinfachung, Zuspitzung, Personalisierung und erkennbare Gegnerschaft. Da Schulz bisher der Kanzlerin weder von der Parlamentarier- noch der Regierungsbank aus zulächeln musste, könnte er im Wahlkampf punkten. In dessen Mittelpunkt das Problem der Gerechtigkeit zu stellen, ist richtig. Doch Fakt bleibt auch, wie Schöler zu Recht bemerkt: »Wählergruppen, die in früheren, noch nicht lange zurückliegenden Jahren, unter der Überschrift Agenda 2010 mit partiell anderen Botschaften wie Maßnahmen konfrontiert bzw. betroffen waren, brauchen offenbar mehr Zeit, um wieder Zutrauen in eine Partei zu entwickeln, von der sie sich enttäuscht abgewendet hatten.«
Um neues Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu bekommen, braucht es vor allem Übereinstimmung von Wort und Tat. »Die zentrale Frage für die zukünftige Identität der Sozialdemokratie lautet daher: Kann sie gegen den neoliberalen Mainstream eine eigene Politik und Wirtschaftsstrategie entwickeln, und welche Akteure können die kapitalistische Wirtschaft zugunsten von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auch in der Globalisierung politisch gestalten?« So fragt nicht nur Gesine Schwan, die Uli Schöler zitiert.
Uli Schöler: Herausforderungen an die Sozialdemokratie. Klartext Verlag, Essen 2016. 440 S., br., 29,95 €.
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