Ab in die Gesundheitsdiktatur!
»Corpus Delicti«: Das Theater an der Parkaue dramatisiert den dystopischen Bestsellerroman von Juli Zeh
Seit einiger Zeit bietet die Firma Apple ihrer Kundschaft eine »Gesundheits-App« fürs Smartphone an, die Informationen zur Herzfrequenz, zu verbrannten Kalorien, zu den Blutzucker- oder Cholesterinwerten abspeichern und in einer Statistik darstellen kann. Welch eine Steilvorlage für das Gesundheitswesen! Das diese bereits freudig annahm. Europas größter Versicherer bietet ein besonderes Bonusprogramm an: »Generali«-Kunden, die sich mittels einer solchen Handy-App überwachen lassen, erhalten Prämien und Rabatte bei ihrer Krankenversicherung.
Angesichts solcher Auswüchse des Gesundheitswahns mutet es grotesk an, dass in der jüngsten Inszenierung des Jugendtheaters an der Parkaue überwiegend Schulklassen sitzen. Da leuchten dann in den Zuschauerreihen beinahe im Minutentakt die Geräte auf, denen sich neben der praktischen Kommunikation auch entnehmen lässt, ob man heute schon die ausreichende Anzahl an Schritten zu Fuß zurückgelegt hat oder abends besser gedünstete Kohlrabi essen sollte statt Burger mit Fritten.
Auf der Bühne, und das vollendet die Skurrilität, wird eine Gesundheitsdystopie gespielt: eine dramatisierte Fassung von Juli Zehs 2009 erschienenem Roman »Corpus Delicti«. Darin hat der Staat im späten 21. Jahrhundert die Gesundheit zur höchsten Bürgerpflicht erklärt und eine »Methode« entwickelt, die jeden zwingt, regelmäßig Schlaf- und Ernährungsberichte sowie Urinproben zur Kontrolle abzugeben. Körperkontakt und fett- oder zuckerhaltige Speisen und Getränke sind verpönt, Rauchen, Alkohol und andere Drogen sind streng verboten. Inmitten dieser Diktatur bittet Mia Holl, weit entfernt von umstürzlerischen Bedürfnissen, nach dem Tod ihres Bruders nur um eines: »Ich möchte in Ruhe gelassen werden.«
Maike Knirsch interpretiert diese Rolle zu Beginn als brave Mitläuferin. Mädchenhaft steckt sie in knallig roten Halbstiefeln, bunten Leggins, grauem Hoodie und einer kleinen Jeansweste. Abgerundet ist ihr Outfit durch einen die kommende Renitenz der Figur andeutenden Julija-Tymoschenko-Gedächtnishaarkranz. Denn natürlich gewährt die herrschende Ordnung ihr nicht die erbetene Ruhe, sondern verlangt weiter ihre Berichte.
Und so wohnt man hier vor allem einer abgedrehten Gerichtsshow bei. Die Kulissen (Bühne: Jule Saworski) sind in biederem Karstadtgrün im alten BRD-Stil gehalten, hinter den Türmen des Rechts erheben sich die Richterin (Mascha Schneider), der Staatsanwalt (Alexander Vaassen), der Strafverteidiger (Vincent Radetzki) und Justizbeamte (Katharina Halus, Johanna Kolberg, Tanja Wehling).
Diese Karikaturen linientreuer Bürokraten, als die sie Regisseurin Marie Schleef zeichnet, präsentieren sich banal, entmenschlicht, denkfaul. Sinnlich lobotomiert, wie es Juristen auch in der Jetztzeit so häufig sind, wiederholen sie gegenüber der mehrmals vor den Kadi zitierten Holl, die »Methode« sei unfehlbar und stehe immer aufseiten des Gemeinwohls. Ihr Pflichtanwalt Lutz Rosentreter und der Schmierenjournalist Kramer (Lukas Sperber) lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie den vor seinem Suizid wegen eines falschen Mordvorwurfs in Haft befindlichen Bruder für schuldig und obendrein Mias Verfehlungen für strafwürdig halten. Die Delinquentin radikalisiert sich dann schnell.
Ein Problem der Romanvorlage ist deren sperrige Sprache, die offenbar die Bürokratie ästhetisch bloßstellen soll. Dem entzieht sich diese Theatervariante. Zum einen, weil das sich aus Schülern der »Ernst Busch« zusammensetzende Ensemble den Figuren eine lebendige Kontur verleiht, ohne den Spannungsbogen durch eine allzu exaltierte Darstellung zu überspannen. Außerdem erweist es sich als brillanter Einfall, das Puppenspiel einzubauen und die emotionalen Rückblenden der Geschwister Holl prominent herauszustellen.
Eine Stelle gibt es, in der die durch Zeh intendierte Verantwortung des Einzelnen bei der Vermeidung einer Gesundheitsdiktatur den Staat fast aus der Schusslinie nimmt. Kurz vor dem Showdown kommt es zur Entstellung der Richter in eine Schafsherde, die Mia Holl das Urteil hinter entsprechenden Masken entgegenblökt. Beruht der immerhin schemenhaft erhaltene Sozialstaat aktuell noch auf dem Prinzip, dass es keine individuelle Alleinverantwortung für den Lebenswandel gibt, könnte sich das bald schon ändern. Durch die digitale Revolution wird es leichter sein, bisher vom Gemeinwesen zu tragende Kosten dem Einzelnen aufzubürden, etwa dessen Lungenkrebserkrankung auf zu viel Rauchen oder dessen Diabetes auf allzu ausgiebigen Zuckergenuss zurückzuführen.
Das wäre der finale Durchbruch der neoliberalen Erzählung vom eigenverantwortlichen Bürger. Dieser Erzählung nicht auf den Leim zu gehen, das ist nicht leicht beim Schreiben und Inszenieren einer solchen Dystopie. Dem Ensemble um Marie Schleef gelingt es aber, durch eine Balance aus schauerlich-lachhaftem Machtapparat und stringenter Figurencharakterisierung bei der Aufforderung zum individuellen Widerstand die Schuldigen nicht auszublenden.
Nächste Vorstellung: 13. Februar
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